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Im „Manifest der Charta 77“ geht es um die Rechte der Staatsbürger

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Dem Beispiel der Bürgerrechtskomitees in der Sowjetunion folgend, haben tschechische Staatsbürger aus allen gesellschaftlichen Schichten, die eine geistige Gemeinschaft, aber keine politische Oppositionsgruppe bilden wollen, ein Manifest herausgegeben, das als „Charta 77“ nun auch im Westen bekannt wurde. Zu den Unterzeichnern zählen der kürzlich aus der Haft entlassene einstige Rektor der Parteihochschule, Milan Hübl, der ehemalige Außenminister JiH Häjek, die Schriftsteller Ludvik Vaculik, Pavel Kohout und Vaclav Havel, aber auch die ehemalige Leiterin des Sekretariats für kirchliche Angelegenheiten, Frau Erika Kadlečo- vä, die sich bekanntlich unter DubCek um eine Entspannung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat bemüht hat. Vorübergehende Verhaftungen und andere Schikanen gegen die Unterzeichner des Manifests ließen selbstverständlich nicht auf sich warten.

Wir veröffentlichen im folg enden den Wortlaut des „Manifests der Charta 77“ in jener deutschen Übersetzung, die unter anderen auch von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ü bemommen wurde.

„Am 13. Oktober 1976 wurden in der Sammlung der Gesetze der Tschechoslowakei (Nr. 120) der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte1 sowie der .Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte1 veröffentlicht, beide im Jahre 1968 im Namen unserer Republik unterzeichnet, im Jahre 1975 in Helsinki bestätigt und bei uns am 23. März 1976 in Kraft gesetzt. Seither haben auch unsere Bürger das Recht und unser Staat die Pflicht, sich danach zu richten. Die Freiheiten und Rechte des Menschen, die von diesen beiden Pakten garantiert werden, sind wichtige zivüisatorische Werte, auf die in der Geschichte das Bemühen vieler fortschrittlicher Kräfte gerichtet war und deren Kodifizierung die humane Entwicklung unserer Gesellschaft bedeutend fördern kann. Daher begrüßen wir, daß die Tschechoslowakische Sozialistische Republik diesen Pakten beigetreten ist.

Objekt von Diskriminierungen

Ihre Veröffentlichung ruft uns aber zugleich mit neuer Eindringlichkeit in Erinnerung, wie viele Grundrechte des Bürgers in unserem Land vorerstleider - nur auf dem Papie r gelten. Völlig illusorisch ist zum Beispiel das Recht auf freie Meinungsäußerung, das von Artikel 19 des ersten Paktes garantiert wird.

Zehntausenden von Bürgern wird es nur deshalb unmöglich gemacht, in ihrem Fach zu arbeiten, weil sie Ansichten vertreten, die sich von den offiziellen Ansichten unterscheiden. Zudem werden sie häufig Objekt vielfältigster Diskriminierung und Schikane seitens der Behörden und gesellschaftlichen Organisationen; jedweder Möglichkeit der Verteidigung beraubt, werden sie zu Opfern einer Art von Apartheid.

Hunderttausenden anderer Bürger wird die .Freiheit von Furcht1 (Präambel des ersten Paktes) verweigert, weil sie gezwungen sind, in der beständigen Gefahr zu leben, Arbeits- und andere Möglichkeiten zu verlieren, falls sie ihre Meinung äußern.

Im Widerspruch zu Artikel 13 des zweiten Paktes, der allen das Recht auf Bildung zusichert, werden zahllose junge Menschen nur wegen ihrer Ansichten oder sogar wegen der Ansichten ihrer Eltern nicht zum Studium zugelassen. Unzählige Bürger müssen in der Furcht leben, daß sie, falls sie sich ihrer Überzeugung entsprechend äußern, selbst oder daß ihre Kinder des Rechts auf Bildung beraubt werden könnten.

Die Geltendmachung des Rechts, .Information und Gedanken aller Art ohne Rücksicht auf Grenzen zu ermitteln, anzunehmen und zu verbeiten, sei es mündlich, schriftlich oder in gedruckter Form1 oder .vermittels der Kunst1 (Punkt 2, Artikel 13 des ersten Paktes), wird nicht nur außergerichtlich, sondern auch gerichtlich verfolgt,

häufig unter dem Deckmantel krimineller Beschuldigung (wovon unter anderem die gegen junge Musiker geführten Prozesse zeugen).

Keine Möglichkeit der Verteidigung

Die Freiheit der öffentlichen Meinungsäußerung wird von der Zentralverwaltung aller Kommunikationsmittel sowie der publizistischen und kulturellen Einrichtungen unterdrückt. Keine politische, philosophische oder wissenschaftliche Ansicht, auch keine künstlerische Äußerung, die nur ein wenig vom engen Rahmen der offiziellen Ideologie oder Ästhetik abweicht, kann veröffentlicht werden; öffentliche Kritik an gesellschaftlichen Krisenerscheinungen wird unmöglich gemacht; die Möglichkeit öffentlicher Verteidigung gegen unwahre und beleidigende Behauptungen seitens der offiziellen Propaganda ist ausgeschlossen (ein gesetzlicher Schutz vor Angriffen auf Ehre und Leumund1, von Artikel 17 des ersten Paktes eindeutig garantiert, existiert in der Praxis nicht); lügenhafte Beschuldigungen lassen sich nicht widerlegen, und vergeblich ist jeder Versuch, auf dem Gerichtsweg Abhilfe oder eine Richtigstellung zu erwirken; im Bereich geistigen und kulturellen Schaffens ist eine offene Diskussion ausgeschlossen. Viele wissenschaftlich und kulturell Tätige sowie andere Bürger werden nur deshalb diskriminiert, weil sie vor Jahren Ansichten veröffentlicht oder offen ausgesprochen haben, die von der gegenwärtigen politischen Macht verurteilt werden.

Die Bekenntnisfreiheit, nachdrücklich in Artikel 18 des ersten Paktes zugesichert, wird von machthaberischer Willkür systematisch eingeschränkt:

durch Beschneidung der Tätigkeit von Geistlichen, über denen dauernd die Drohung des Entzugs oder des Ver- lusts der staatlichen Büligung der Ausübung ihrer Funktion schwebt; durch existentielle oder andere Repressalien gegenüber Personen, die ihr religiöses Bekenntnis durch Wort oder Tat bekunden; durch Unterdrük- kung des Religionsunterrichts und ähnliches.

Das Instrument der Einschränkung und häufig auch der völligen Unterdrückung einer Reihe von bürgerlichen Rechten ist ein System faktischer Unterordnung sämtlicher Institutionen und Organisationen im Staat unter die politischen Direktiven des Apparats der regierenden Partei und unter die Beschlüsse machthaberisch einflußreicher Einzelpersonen. Die Verfassung der Tschechoslowakei, andere Gesetze und Rechtsnormen regulieren weder Inhalt und Form noch Gestaltung und Anwendung solcher Beschlüsse; sie werden vorwiegend hinter den Kulissen, oft nur mündlich gefaßt, sind den Bürgern insgesamt unbekannt und von ihnen nicht kontrol-

lierbar; ihre Urheber sind niemandem verantwortlich als sich selbst und ihrer eigenen Hierarchie, dabei beeinflussen die jedoch auf entscheidende Weise die Tätigkeit legislativer und exekutiver Organe von Staatverwaltung, Justiz, Gewerkschaft, Interessenvertretungen sowie allen anderen gesellschaftlichen Organisationen, anderen politischen Parteien, Unternehmen, Werken, Anstalten, Behörden, Schulen und weiteren Einrichtungen, wobei ihre Anordnungen selbst vor dem Gesetz Vorrang genießen. Geraten Organisationen oder Bürger bei der Auslegung ihrer Rechte und Pflichten in Widerspruch zur Direktive, können sie sich an keine unparteiische Instanz wenden, weil keine existiert. Durch all dies werden ernstlich jene Rechte eingeschränkt, die sich aus Artikel 21 und Artikel 22 des ersten Paktes ergeben (Versammlungsfreiheit und das Verbot jedweder Einschränkung von deren Ausübung), sowie aus Artikel 25 (Gleichheit des Rechts, sich an der Führung öffentlicher Angelegenheiten zu beteiligen) und aus Artikel 26 (Gleichheit vor dem Gesetz). Dieser Zustand verwehrt es auch Arbeitern und anderen Berufstätigen, zum Schutz ihrer wirtschaftlichen und sozialen Interessen ohne jedwede Einschränkung gewerkschaftliche und andere Organisationen zu gründen und frei das Streikrecht (Punkt 1, Artikel 8 des zweiten Paktes) anzuwenden.

Weitere Bürgerrechte, einschließlich des ausdrücklichen Verbots .willkürlicher Eingriffe in Privatleben, Familie, Heim oder Korrespondenz* (Artikel 17 des ersten Paktes), werden auch dadurch bedenklich verletzt, daß das Innenministerium auf unterschiedlichste Weise das Leben der Bürger kontrolliert, zum Beispiel durch Abhören von Telephonen und Wohnungen, durch Kontrolle der

Post, durch persönliche Überwachung, durch Hausdurchsuchungen, durch Aufbau eines Netzes von Informanten aus den Reihen der Bevölkerung (oft vermittels unstatthafter Drohungen oder, umgekehrt, Versprechungen gewonnen) und so weiter. Oft greift das Innenministerium dabei in die Entscheidungen von Arbeitgebern ein, inspiriert diskriminierende Aktionen von Behörden und Organisationen, beeinflußt Justizorgane und lenkt auch Propagandakampagnen der Kommunikationsmittel. Diese Tätigkeit wird nicht von Gesetzen geregelt, sie ist geheim, und der Bürger kann sich auf keine Art dagegen wehren.

Menschenwürde verletzt

In Fällen politisch motivierter Strafverfolgung verletzen Ermitt- lungs- und Justizorgane die Rechte der Beschuldigten und ihrer Verteidigung, die von Artikel 14 des ersten Paktes sowie von tschechoslowakischen Gesetzen gewährleistet werden. In den Gefängnissen behandelt man solcherart verurteilte Menschen auf- eine Weise, welche die Menschenwürde der Inhaftierten verletzt, ihre Gesundheit gefährdet und darauf abzielt, sie moralisch zu zerbrechen.

Allgemein verletzt wird auch Punkt 2, Artikel 12 des ersten Paktes, der dem Bürger das Recht garantiert, sein Land frei zu verlassen; unter dem Vorwand des,Schutzes der nationalen Sicherheit1 (Punkt 3) wird dieses Recht an verschiedene unstatthafte Bedingungen geknüpft Willkürlich verfahren wird auch bei der Erteilung von Einreisevisa an Angehörige fremder Staaten, von denen viele die Tschechoslowakei zum Beispiel nur deshalb nicht besuchen können, weil sie beruflich oder freundschaftlich mit bei uns diskriminierten Personen verkehrt haben.

Manche Bürger weisen - sei es privat, am Arbeitsplatz oder öffentlich, was allerdings nur in ausländischen Kommunikationsmitteln möglich ist - auf die systematische Verletzung der Menschenrechte und der demokratischen Freiheiten hin und fordern in konkreten Fällen Abhilfe; ihre Stimme findet jedoch meist keinen Widerhall oder sie werden zum Gegenstand von Ermittlungen.

Die Verantwortung für die Einhaltung der Bürgerrechte im Lande obliegt selbstverständlich vor allem der politischen und staatlichen Macht. Aber nicht nur ihr. Jeder trägt sein Teü Verantwortung für die allgemeinen Verhältnisse und somit auch für die Einhaltung kodifizierter Pakte, die dazu übrigens nicht nur Regierungen, sondern alle Bürger verpflichten. Das Gefühl dieser Mitverantwortlichkeit, der Glaube an den Sinn bürgerlichen Engagements und der Wille dazu, sowie das gemeinsame Bedürfnis, dafür einen neuen und wirksameren Ausdruck zu finden, hat uns auf den Gedanken gebracht, CHARTA 77 zu bü- den, deren Entstehung wir heute öffentlich anzeigen.

CHARTA 77 ist eine freie, informelle und offene Gemeinschaft von Menschen verschiedener Überzeugungen, verschiedener Religionen und verschiedener Berufe, verbunden durch den Willen, sich einzeln und gemeinsam für die Respektierung der Bürgerund der Menschenrechte in unserem Land und in der zeit einzu6etzen - jener Rechte, die dem Menschen von beiden kodifizierten internationalen Pakten, von der Abschlußakte der Konferenz in Helsinki, von zahlreichen weiteren internationalen Dokumenten gegen Krieg, Gewaltanwendung und soziale und geistige Unterdrückung zugestanden werden, und die zusammenfassend von der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ der UN zum Ausdruck gebracht werden.

CHARTA 77 fußt auf dem Boden der Solidarität und Freundschaft von Menschen, die von der gemeinsamen Sorge um das Geschick der Ideale bewegt werden, mit denen sie ihr Leben und ihre Arbeit verbunden haben und verbinden.

CHARTA 77 ist keine Organisation, hat keine Statuten, keine ständigen Organe und keine organisatorisch bedingte Mitgliedschaft Ihr gehört jeder an, der ihrer Idee zustimmt, an ihrer Arbeit teilnimmt und sie unterstützt.

CHARTA 77 ist keine Basis für oppositionelle politische Tätigkeit. Sie will dem Gemeininteresse dienen wie viele ähnliche Bürgerinitiativen in verschiedenen Ländern des Westens und des Ostens. Sie will also nicht eigene Programme politischer oder gesellschaftlicher Reformen oder Veränderungen aufstellen, sondern in ihrem Wirkungsbereich einen konstruktiven Dialog niit der politischen und staatlichen Macht führen, insbesondere dadurch, daß sie auf verschiedene konkrete Fälle von Verletzung der Menschen- und Bürgerrechte hinweist, deren Dokumentation vorbereitet, Lösungen vorschlägt, verschiedene allgemeine Vorschläge unterbreitet, auf die Vertiefung dieser Rechte und ihrer Garantien abzielt und als Vermittler in anfallenden Konfliktsituationen wirkt, die durch Widerrechtlichkeit verursacht werden können.

Durch ihren symbolischen Namen betont CHARTA 77, daß sie an der Schwelle eines Jahres entsteht, das zum Jahr der Rechte politischer Gefangener erklärt wurde und in dessen Verlauf die Belgrader Konferenz die Erfüllung der Verpflichtungen von Helsinki prüfen soll.

Wir glauben daran, daß CHARTA 77 dazu beitragen wird, daß in der Tschechoslowakei alle Bürger als freie Menschen arbeiten und lęben können, Prag, am 1. Jänner 1977“

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