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Im Nachtschatten

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Die Straße, die am Haus vorbeiführt, ist eine Sackgasse. Sie endet bei den letzten Häusern und bildet ein T. Dort ist die Kehre. Die Sackgasse geht aus von der Bezirksstraße, und zwar im rechten Winkel. Wer die Sackgasse betritt, hat eine Absicht; er besucht jemand, der hier wohnt, hat etwas zu tun oder, näherliegend, wohnt selbst hier. Die Häuser wurden von Siedlern erbaut; es sind Ein-oder Zweifamilienhäuser.

Für das Gebiet besteht ein Ver-bauungsplan, doch als der Mann baute, bestand dieser noch nicht; deshalb konnte der Mann nach seinem Plan bauen. Er baute ein flaches, ebenerdiges Haus, kalkte die Fassaden und deckte es mit Eternit ein. Er setzte es, den Mindestabstand einhaltend, an die nördliche Grenze des Grundstücks. Als er dieses Grundstück kaufte, war es ein Teil eines Obstgartens. Die Obstbäume, die ein Alter von mehr als vierzig Jahren hatten, wurden gerodet. Die Bäume auf seinem Grundstück blieben unberührt. Er plante die Lage des Hauses so, daß er die Bäume schonte; nur zwei fielen dem Bau zum Opfer.

Noch während er am Rohbau arbeitete, wurde der Verbauungs-plan erstellt, und er nahm Einsicht in den Plan, sah, daß alle Häuser nur einheitlich hoch und quadratisch auf viel zu kleinen Grundstücken stehen würden, überlegte nicht lange und kaufte das angrenzende Grundstück im Norden. Das Haus stand nun auf der südlichen Hälfte des Grundstücks, und als es fertig war, umschloß er den Besitz mit einem Zaun, pflanzte am Rande Fichten und innerhalb Pappeln, Birken und Weiden.

Das Haus und der Garten machen einen ruhigen Eindruck. Er wartet auf das Wachsen der Bäume und hält dies für wichtig. Die Häuser in der Nachbarschaft wachsen rascher; dies ist ein Widerspruch für ihn.

Tiere bevölkern das Grundstück: ein Schaf, drei Katzen. Er hält die Vermehrung der Katzen unter Kontrolle; ob der Wurf am Leben bleibt, richtet sich auch nach der Nachfrage. Im weitesten Umkreis sucht er für die Jungen Heimplätze. Das Schaf blökt, grast und hebt bei jedem Geräusch den Kopf. Es ist schnell, steht aber oft lange da und starrt auf einen Fleck. Er spricht zu ihm, sagt, die Meinung der Welt sei unwichtig. Das Schaf schaut ihn an.

Er verbringt eine halbe Nacht im Freien, betrachtet den Wechsel der Schnecken im Gras. Die markieren mit glänzenden Schleimspuren. Das Wiesel taucht aus dem Boden auf. Der ängstliche Pfiff der Mäuse kündet es an. Die Fledermaus kreist lautlos. Die Schleiereule nimmt Stand auf dem Telefondraht, überblickt das mondhelle Grundstück. Der Igel schmatzt. Die Augen der Katzen im Dunkeln; er gibt sich zu erkennen, die Katzen drücken sich an seine Beine.

Er denkt an einen Menschen. Die meisten Menschen schlafen jetzt. Da ihm die meisten unbekannt sind, ist es von Bedeutung, an wen er denkt. Es könnte auch ein Kind sein, das ihm nicht unbekannt ist. Dann ist dies von besonderer Bedeutung; es kommt auf die Frau an, die das Kind geboren hat. Es kommt darauf an, ob er hier stehen bleibt. Die Nacht verändert sich nicht. Die Geschehnisse um diese Frau verändern ihn. Er hat den Mut, an die Frau zu denken. Er hat immer an sie gedacht, auch wenn er es nicht wußte. Er fühlt die Ubereinstimmung: die Nacht, die er erlebt und die Frau, an die er denkt, sind beide unwirklich. Wirklich sind nur seine Sinne, die die Nacht wahrnehmen und seine Gedanken, die die Frau denken.

Langsam weiß er: ich rieche das reifende Korn von weither, den Tau im Gras, die Blätter, die Rinde, ich rieche den Samen und die Frucht, die wachsende und reifende, mein Körper ist bedeckt mit Riechwarzen, die notwendig sind, aber den Ausschluß aus der Öffentlichkeit bedingen. Diese verwehrt einem das Ansehen, man paßt sich dem Unwirklichen an; die Frau ist da, sie lebt, und wenn ich hineingehe ins Haus, verliert die Nacht ihre Existenz.

Dort beginnt die Existenz der Gegenstände, die in Zimmerluft gedeihen. Sie beruhigen in ihrer Bewegungslosigkeit. Darüber hinaus wird die Frau zur Unruhe, die Nacht löst sich in Rätsel auf, die Erfahrungen werden zweifelhaft. Es kann sein, daß er noch einmal hinausgeht. Er hat Geräusche gehört. Eine Ausrede. Unruhe, Rätsel und Erfahrungen werden beunruhigender. Ich hätte drinnen bleiben sollen, wird er denken. Drinnen aber stellt er die

Dinge auf den Kopf. Was sind Grenzen und Zäune? Zeugen der Despotie. Sozusagen freiwillig errichtet und rechtlich bestärkt.

In einer Form absoluter Frei-* heit leben? Unvorstellbar. Die Straße ist da, die ein T bildet, die Häuser, der Verbauungsplan, auch sein Haus, noch vor dem erbaut. (Ein winziger Teil Freiheit.) Die verschonten Obstbäume, die Fichten, Pappeln, Birken und Weiden, der ruhige Eindruck, die abgebrochenen Beziehungen, die Tiere. Die bestätigen die Freiheit, indem sie sich immer gleich benehmen. Somit nimmt er sich heraus, aus dem Schaf nicht mehr zu machen als es ist, auch nicht mehr aus Zäunen, Bäumen und Leuten, als sie sind.

Die Gegenstände im Haus sind Dinge des Gebrauchs, die Bilder an den Wänden Wegmarken, die Pflicht, der Zwang, das Rechte tun heißt, die Verpflichtungen gehen weiter und niemand merkt eine Veränderung; er hat sie freiwillig auf sich genommen. Die Leute sagen: seht, bei ihm ändert sich nichts, eine Woche ist wie die andere! Oder die Leute sagen nichts, weil sie es gewohnt sind, daß er nachts im Garten herumgeht. Sie wissen nicht, daß er nichts anderes hört oder sieht oder wahrnimmt als bisher. Es wäre nicht außergewöhnlich, wenn jemand über den Zaun spränge und ihn mit einer Waffe bedrohte. Ein erschreckter Dieb flieht, ein gestellter schießt. Er würde morgens still im Gras liegen. Er hätte durch seinen Tod die Freiheit gesteigert. Nur würde er nachträglich bereuen — wenn er es könnte —, daß er durch einen Dieb fiel, der unfreiwillig handelte. Das brächte das Gebäude seiner Gedanken zum Einsturz. Er würde mit dem Dieb leise sprechen, weil er im Grunde die Inkonsequenz, Ungerechtigkeit und Vernunftlosigkeit immer heimlich geliebt hatte.

Er hat sein Haus zur Deckung erbaut. Er tarnt sich mit Bäumen und Sträuchern. Es gibt viele Ausreden. Er wird es so lange aushalten, bis ihn jemand entlarvt. Dann gibt es Mittel, sich zu rechtfertigen. Doch was braucht die Freiheit für eine Rechtfertigung? Ein Taschenmesser, eine Baumschere, eine Schubkarre und einen Spaten. Dinge, die dem Garten zum Dasein verhelfen. Eines Tages würde er diese Dinge liegen und stehen lassen; so, wie er sie gebraucht hatte, liegen und stehen sie im Gras. Das Taschenmesser unter den Birken; er hatte Sisalschnüre zum Aufbinden geschnitten. (Die Birken sind jung und schwachstämmig.) Die Baumschere neben dem Weißdorn; der verdrängt seine Nachbarn. Die Schubkarre halbvoll mit Gras unter dem Apfelbaum; er hatte Gras gerupft. Der Spaten steckt im Boden. Vom Fenster aus kann er in der Dämmerung Spaten und Schubkarre sehen. An diesen Gegenständen stellt er die Lage des Taschenmessers und der Baumschere fest. Er weiß, daß sie liegen, wie er sie verlassen hat. Sie werden ihn bestätigen. So stellt er sie auf die Probe diese Nacht. Sie bestätigen ihn mit ihrer Gegenwart; wie er sie hinlegte, bleiben sie liegen und werden zu finden sein am Morgen.

Die frühe Sonne spiegelt sich im Spatenblatt oder in der scharfen Klinge des Messers. Er war die ganze Nacht bereit. Wach liegend erhoffte oder befürchtete er eine Änderung; je nach der Lage des Körpers im Bett sollten sich die Dinge verlagert oder ihren Standpunkt aufgegeben oder die Perspektiven sich verschoben haben. Ein Messer liegt auf der Straße, Sackgasse. Das erste Kind, das auf dem Weg zur Schule ist, nimmt das Messer auf, betastet es und steckt es in die Tasche. Oder es ist Sonntag und ein Kirchgänger scharrt es mit dem Fuß zur Seite. Die Straße gibt jedermann Gelegenheit, sich zu nähern. Die Sackgasse kann sich nicht verändern. Und der Verbauungsplan ist eine Urkunde. Da gibt es nichts zu rütteln. Zuwiderhandlungen werden bestraft.

Freiheit besteht nur innerhalb des Zauns, auf seinem Plan, ganz persönlich. Wenn da ein Messer hegt, bleibt es liegen und blitzt in der Sonne. Jeder kann belangt werden, der seine Lage verändert.

Der neue Roman von Franz Rieger, dem Preisträger des Wettbewerbs für christliche Literatur, „Schattenschweigen oder Hartheim” ist soeben im Styria-Verlag, Graz, erschienen.

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