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Im Orkus der Ringstraße

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Anton Kuh, der blitzgescheite Karl -Kraus-Antipode, schrieb einmal, die eigentliche, innerste Herzkammer Wiens sei jener imaginäre Punkt, wo die Katakomben von St. Stephan, die Hof-Weinkellerei und die unterirdischen Bücherspeicher der Nationalbibliothek zusammenstoßen.

Bei solch wahrhaft tief-sinnigen (sie!) Betrachtungen konnte er freilich noch nicht ahnen, daß nun auch das große Figurenaufgebot der Ringstraßenzeit sein subterranes Widerbild hat. Der repräsentativen Oberwelt entspricht ein verborgener Orkus, ein Monumenten-Hades, oder wenn man es modisch ausdrücken will: eine Underground-Sphäre.

An sich hat dieser Bereich rein kulinarische Traditionen. Zugang ist die „Zuckerbäckerstiege“ des Leopol-dinischen Traktes der Hofburg. Dort öffnet sich ein Gittertor mit dem schmiedeeisernen Doppeladler und der Inschrift „k. k. Hofkeller 1878“. Zwei Stockwerke unterm Straßenniveau lagerten Vorräte für die kaiserliche Tafel. Jetzt dient das obere der beiden Geschosse als Depot für Originalmodelle von Plastiken, in den Gewölben, die sich bis unter den Inneren Burghof erstrecken, zu surrealen Arrangements zusammengedrängt. Phantastische Szenerien in verfremdender Raumausnützung. Der Zufall führt Regie.

„Fritz Wotruba und Wander Ber-toni waren begeistert und machten sich erbötig, die Bestände, soweit erforderlich, zu restaurieren“, erklärt Dr. Walter Krause vom Kunsthistorischen Institut der Universität Wien. Er bearbeitete für die große Ringstraßen-Dokumentation der Thyssen-Stiftung den Sektor Bildhauerei. „Leider geht bei Reparaturen im Keller immer wieder etwas verloren. Die Leute passen halt nicht auf, weil das Zeug ja eh nur aus Gips ist. Ein Filmteam, das hier drehte, wollte sich sogar eine Büste ,zum Zielschießen' mitnehmen ...“

Fasziniert wäre gewiß auch etwa Adolph von Menzel gewesen, der in Berlin ähnliche Motive malte.

Bei der Auftragserteilung wurden die Künstler kontraktlich verpflichtet, nach der Fertigstellung ihrer Werke die Modelle abzuliefern. So blieben viele davon trotz der Empfindlichkeit des Materials erhalten und ergaben allmählich eine Sammlung, die nach Ansicht der Experten einzigartig ist. Nun, da die Stilrichtung des Historismus gebührenden Anwert findet, bietet der geformte Gips als sinngemäße Ergänzung zu den ausgeführten Arbeiten interessante Vergleichsmöglichkeiten. Zumal hier die schöpferische Hand-' schritt oft deutlicher in Erscheinung tritt als am Endresultat, das ja meist nicht der Plastiker selbst meißelte, sondern sein .Helfer, der handwerkliche Steinbildhauer. ' Denn bis auf ganz wenige Ausnahmen sind in dem spärlich erleuchteten Rohziegel-Hades Modelle und Entwürfe gehortet, die dann in Sandstein oder Marmor realisiert wurden. Von den Originalmodellen für Brorizestatuen gibt es bestenfalls noch Fragmente, z. B. das mächtige Haupt von Fernkorns Erzherzog Carl, ein Rarissimum im Besitz des Heeresgeschichtlichen Museums.

Außerdem würde man für die Unterbringung vollständiger Gußmodelle — wären sie noch existent — ein Depot von den Dimensionen alter Bahnhofshallen benötigen. Oft war es schon schwierig genug, die heiklen Figuren über die Treppe in den Keller zu schaffen. Bei manchen Gruppen gelang dies nur, wenn man sie vorsichtig teilte und unten wieder zusammenfügte, denn die Maße variieren zwischen Überlebensgröße und salongerechter Statuettenhöhe. Häufig kamen die Werke freilich bereits ramponiert in die Leopoldinische Obhut. Frei emporgereckte Gipsarme und flatternde Draperien überdauern selten Jahrzahnte des Herumschiebens.

Nach einem Verzeichnis, das der Kunsthistoriker Norbert Wibiral vor einiger Zeit anlegte, waren ursprünglich insgesamt mehr als 630 Einzelobjekte vorhanden. „Den Schwund durch nachträglichen Bruch muß man als laufenden Abzugsposten einkalkulieren“, seufzt Doktor Krause. Jedes Stück trägt eine schwarz aufgemalte Nummer und einen Inventarzettel. Mit solch einem Merkschildchen um den Hals, wie zur Kinderlandverschickung der Kriegsjahre abgefertigt, sitzt der versonnene Johannes Brahms, so wie man ihn von seinem Denkmal bei der Karlskirche kennt, nur in etwas kleinerer Statur, vor den Reliefs für Rudolf Weyrs Grillparzer-Monu-ment. Weyr, als junger Mann von seinem Lehrer empfohlen, war Sempers und Hasenauers große Entdeckung und begründete mit Skulpturen für die Ringstraße seine Karriere.

Soweit geschlossene Komplexe erhalten blieben, ist auclj. in den Katakomben der Zusammenhang der Modelle gewahrt, ja zum Konzentrat verdichtet. Etwa bei den zahlreichen Bauplastiken der Museen, des Parlaments und des Burgtheaters, all den Reliefs, Maskarons, Büsten, Zwickelfeldern und Attikastatuen — eine ungeahnte Fülle von Motiven, Zyklen, figuralen Pointen und Programmen, hier aus der Nähe und viel besser zu betrachten als unier freiem Himmel, wo sie sich dem Gesamteindruck der Architektur einordnen.

Anderseits ergab willkürliche Aufstellung auf dem eben verfügbaren Raum sonderbare anekdotische Beziehungen. Gestalten-Konglomerate, gleichsam plastische Collagen. Da steht just ein Wäschermädel in Kopftuch und Schlapfen als Nachbarin der Kaiserin Elisabeth und allegorischer Damen. Zeitgenossinnen, sozial getrennt, in Gips vereint.

Rembrandt schmiegt sein Barrett an ein banales Leitungsrohr der Heizanlage, die Bildnisbüsten Tinto-rettos, Velazquez' und Michelangelos von Victor Tilgner scheinen auf dem staubigen Boden ein Künstlersym-posion abzuhalten, während Leonardo da Vinci in voller Größe und Burgschauspielerpose einer kühnen Komposition bewegter Frauenkörper im Stil Rodins zugewandt ist, die man freilich auf Wiener Plätzen vergebens suchen würde. Das gefurchte alte Knechtsgesioht des Steinklopferhans für das Anzengruber-Denkmal hat als Partner ein kolossales Goethe-Haupt, gigantisch wie die Juno-Büste in des Olympiers Weimarer Haus.

Gerade die unausgeführten Entwürfe erwecken besonderes Interesse. Wo wären wir z. B. dem erwähnten feschen Wäschermädel versteinert begegnet? Das Maria-There-sien-Monument würde eine andere Silhouette ins Stadtbild zeichnen, hätte man sich für das Modell entschieden, das Anton Paul Wagner, Johann Silbernagel und Carl Coste-noble gemeinsam schufen, ohne Auftrag, bloß aus Privatinitiative. Mozart säße unter einer prunkenden Säulenkulisse, statt in apollinischer Haltung an einem Notenpult zu stehen. Patinagrün eingefärbt nahm auch Kaspar v. Zumbuschs halb mannshoher reitender Rudolf von Habsburg nicht die Hürde zwischen Projekt und Verwirklichung. „Beredter als vorhandene Denkmäler sprechen“ manchmal die fehlenden zur Nachwelt“, resümiert Gerhardt Kapner diese Erwägungen in seinem Buch über die Plastiken der Ringstraße.

Vereinzelt finden sich zwischen den weißen Gestalten rein architektonische Modelle: eine Mini-Museumskuppel, schon sehr „baufällig“, oder der zeitlich späteste Teil der Neuen Hofburg, jener Festsaaltrakt, den Ludwig Baumann errichtete, das heutige Kongreßzentrum.

Fernziel berufener, eifriger Historismus-Verfechter wie Walter Krause und Klaus Eggert: die wichtigsten, besten Bestände an bruchgefährdetem Kulturgut aus dem Orkus heraufzuholen und in das ideale Ambiente des Schlosses Grafenegg bei Krems zu versetzen, das sich im Verlauf seiner Restaurierung bereits zu einem Schwerpunkt für die Präsentation der Kunst des 19. Jahrhunderts entwickelte.

Dann wird man sicherlich gern auf das großzügige Angebot von Meister Wotruba und Meister Bertoni zurückkommen.

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