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Im Schnee

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„Was haben die Polen hier zu suchen?" fragte die junge Dame gegen ein Uhr nachts nach der besinnlichen Weihnachtsfeier, während ihr der Schnee in schönen leichten Flocken auf den rotblonden Haarknoten fiel.

Ich hatte sie nach Hause gebracht. Ratlos, zum Plaudern aufgelegt, ein wenig kämpferisch stand sie vor dem Tor. Wir hatten Autoradio gehört, natürlich auch Nachrichten aus Polen, Aufrufe, Hilferufe, und nun verzog die junge Dame nochmals die dünnen Lippen und wiederholte die Frage.

Es gelang mir nicht gleich, sie zu verstehen. Endlich war ich soweit. Und also sagte ich ihr, daß auch ich irgend-einmal nach Österreich gekommen war — damals, vor fünfundzwanzig Jahren — und daß ich nun ein Österreicher bin wie sie selbst.

„Ja, aber Sie haben immer noch einen Akzent", sagte die junge Dame, und sie stellte die Frage ein drittes Mal: „Also, was haben die Polen bei uns zu suchen?"

Sie war zweiundzwanzig, sie hatte also offenbar weniger Zeit in Österreich verbracht als ich, war aber hier geboren und sprach ihren leicht melodiösen österreichischen Dialekt ohne Akzent. Ich versuchte, sie auf das Völkergemisch von Wien aufmerksam zu machen, auf mein bescheidenes Recht, in diesem Land zu leben, auf die Not der Menschen, die aus Polen zu uns gekommen sind. Sie aber gab nicht nach. „Was haben Sie hier zu suchen?" fragte sie.

Das Schneetreiben war lebhafter geworden. Der rotblonde Haarknoten glänzte, und herausfordernd funkelten die Augen.

Was hätte ich antworten sollen? Ich verabschiedete mich und fuhr dann los — hinein in eine Nacht, hinein in eine Morgendämmerung, die keine Polen erkennbar machen würde, keine Österreicher und keine Ungarn, sondern nur Menschen. Aber ich wußte nicht, ob ich diese Stunde des Lichts jemals erreichen würde.

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