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Im Strom der Geschichte

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Attacken gegen Österreich sind auf der Tagesordnung;

nicht selten werden sie von Österreichern geführt. Sie rühren indessen bloß an der Oberfläche, dringen nicht in die Tiefe. Das seicht Gedachte hat freilich breite Wirkung: es ersetzt die Wahrheitssuche durch Besserwisserei und enthebt das Publikum der Mühe, nachzudenken.

Im Falle von Agitatoren österreichischer Herkunft ist solches Verharren bei dem Gekräusel der Tagespolitik verständlich. Ihr

Ziel ist nicht die Erkenntnis, sondern die radikale Änderung. Diese ist ohne die Zerstörung des Gegenwärtigen nicht möglich. Die lebhafte Diskussion gibt ihnen die gesuchte Gelegenheit, sich in Szene zu setzen.

Anders verhält es sich mit den Kritikern im Ausland. Sie vertreten moralische Prinzipien oder sie folgen ihren Gefühlen. Der kategorische Imperativ einer allem übergeordneten abstrakten Moral hat für das historische Panorama, für die zahllosen Wechselfälle des konkreten Lebens, für das Wirrwarr der Wirklichkeit kein Auge. Die Leidenschaft ist blind. In jedem Fall bleibt der Standort realitätsfremd.

Nicht überraschend ist das Wesen der Argumentation. Sie entspringt dem Aberglauben, alles wäre machbar, und bezieht den Irrtum auch auf die Geschichte. Hier wird die großartige Naivität der französischen Aufklärung spürbar. In der Tiefe wirkt die Forderung, vom magisch-mythischen Urgrund und vom Chaos des Lebens unabhängig eine beglückende Gesellschaftsmaschine zu konstruieren.

Zu alldem gesellt sich der Trieb des Generationenkampfes. Die Jüngeren rebellieren gegen das vermeintliche Fehlverhalten der Väter und Mütter. Das Gefühl sucht und findet sachliche Argumente. Es gibt keine schuldlose Generation. Die Erinnerung an die schreckliche Zeit der Verfolgung wirkt nachhaltig, und es wirkt andererseits das Bewußtsein, Väter und Mütter hätten sich seinerzeit mit dem Bösen abgefunden, die Mörder auch noch unterstützt Die Zahl der Helden ist jederzeit gering;

Der Aberglaube, alles wäre machbar, trübt den Sinn für die formenden Kräfte der Geschichte. Wer sich für einen tätigen Rationalisten hält, kann Schicksal — als die Summe unendlich vieler an sich mit Hilfe der Ratio erfaßbarer, aber in Wirklichkeit unüberschaubarer Wirkungen — nicht begreifen.

Die Frage rührt an das Problem der Determination. Sie hat den schwachen Seelen jederzeit als gute Ausrede gedient Aber Entscheidungen sind nur auf Grund von Kenntnissen der Wirklichkeit zu treffen; zudem wirkt auf jede Persönlichkeit das ununterbrochene Flüstern der Tradition. Im Prinzip sind wir verantwortlich für jede Untat: Es wäre uns möglich gewesen, aufzubrechen, um sie zu verhindern. Doch sind dem Kreis solcher universellen Verantwortlichkeit praktische Grenzen gesetzt

Wer sich mit dem österreichischen Schicksal wirklich befassen wollte, um sich dann eine begründete Kritik, ja ein Urteil zu er lauben, müßte sich auf das Wesen der in Österreich ansässigen Bevölkerung konzentrieren und, nach der Art der Ethnologen, Glaubens- und Ideenforschung betreiben. Er würde dann als Ausgangspunkte, einerseits das Hochbarock und andererseits die Identitätskrise zur Zeit der Entstehung der Nationalstaaten erkennen, und zwar vor einem bäuerlichen, in den Alpentälern sogar archaischen Hintergrund.

Was zum Glanz und zum Elend dieses Staates wurde, ist im späten 18. Jahrhundert vorgeformt. Der Raster dieses Kraftfeldes ist wohl zu ändern, aber nicht zu verlassen. Ob wir es wollen oder nicht: Bis heute sind die großen Bruch- und Verbindungslinien wirksam, und das Verhältnis zum Deutschtum bleibt im geistigen Bereich eine zu diskutierende Frage.

Von ihrer Geschichte genauso geprägt waren und sind auch andere Völker des Donauraumes. Soll man den Tschechen zum Vorwurf machen, daß sie in den letz ten Jahrhunderten gegen die verschiedenen Formen der Diktatur keine blutigen Aufstände geführt haben? Wir kennen die Gründe. Warum hat die Mehrzahl der Ungarn seinerzeit gehofft, mit der Hilfe Hitlers das einstige Großungarn wiederzugewinnen? Die Ursachen sind bekannt. Warum waren während des Zweiten Weltkrieges so viele Slowaken begeistert, endlich — wenn auch unter Schirmherrschaft des Dritten Reiches - einen eigenen Nationalstaat zu bilden? Die treibenden Kräfte liegen in der Historie, Bannstrahlen sind zwar schön, aber sie blenden die Sicht. Die Tyrannis, die Herrschaft der Bösen, ist zu bekämpfen und zu verurteilen — bleibt aber Teil der Geschichte. Wie Stalin.

Wir haben nun, nach der Hybris der Zwischenkriegszeit, eine Demokratie. Sie ist freilich unvollkommen. Ihr Ausbau ist unsere Pflicht. Doch sind wir Österreicher oder Ungarn oder Tschechen oder Slowaken, wie wir nun einmal sind. Die Kritik kann wohl die Sensibilität gegenüber den eigenen Schwächen der Moral steigern, Völker sind lebendige Wesen wie Menschen, und österreichische Geschichte — auch Zukunft — besteht aus österreichischem Stoff, nicht, weil er der beste der Welt ist, sondern weil wir keinen anderen besitzen.

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