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Im Sumpf des Vergessens?

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Hinter dem Reporterrummel, den Solschenizyn — als zu einer liberalen Gesellschaftsordnung gehörend —standhaft über sich ergehen Heß, wird von Tag zu Tag stärker eine Verlegenheit sichtbar. Der freie Westen nebst allem, was sich dafür hält oder ausgibt, w*ü} längst, daß ein Solschenizyn im Westen ein ganz anderer Solschenizyn ist als ein Solschenizyn in der Sowjetunion.

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Hinter dem Reporterrummel, den Solschenizyn — als zu einer liberalen Gesellschaftsordnung gehörend —standhaft über sich ergehen Heß, wird von Tag zu Tag stärker eine Verlegenheit sichtbar. Der freie Westen nebst allem, was sich dafür hält oder ausgibt, w*ü} längst, daß ein Solschenizyn im Westen ein ganz anderer Solschenizyn ist als ein Solschenizyn in der Sowjetunion.

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In der Sowjetunion ein Held der Wahrheit, weil er schrieb und sagte, was dort niemand schreiben, sagen oder auch nur hören darf, weil er, vor keiner Drohung zurückschrek-kend, als einzelner den Kampf gegen ein System aufnahm, das Größere als ihn zerschmettert hat („zerschmettern“ war ja ein Lieblingswort Lenins wie Stalins), weil er gewagt hat, was von seinen marktkonformen Kollegen im Westen längst keiner mehr versucht: nämlich die totale Provokation der materiellen Macht mit den Mitteln des Intellekts. Im Westen: Der Autor eines weiteren Buches neben vielen, in dem, etwas wortmächtiger vielleicht als sonst, mit der Unmenschlichkeit des Stalinismus abgerechnet wird und auch Lenin sein Teil abbekommt. Die Wahrheit über Stalin, in der Sowjetunion eine moralische Kraft, ist im Westen längst nur noch ein historisches Thema und vielleicht eine Frage der Akzente.

Oder ist (wird) das wieder einmal anders? Gerade jetzt, da die Sowjetunion, um ein berühmtes Lenin-Zitat zu aktualisieren, gegen Solschenizyn „mit den Füßen abgestimmt“ hat, nämlich mit den Füßen, die ihm einen Tritt gaben, scheint es ja im Westen geboten, das angestammte Stalin-Bild etwas zu schönen, wenigstens wenn man es sich mit der studentischen Linken nicht verderben will, die nach dem Scheitern aller revolutionären, urkommunistischen, ur-anarchistischen Hoffnungen, der Frustration in der Isolation müde, die intellektuelle und moralische Sicherheit eines sowjetfrommen „Marxismus“ wählte. Deutlicher Hinweis darauf, wie stark heute in der westlichen Linken (ist sie noch links?) die Tendenz ist, Stalin wieder einen guten Mann sein zu lassen, ist Rudolf Augsteins Artikel „Ein Betriebsunfall namens Stalin“ im „Spiegel“, als dessen Kernbotschaft nur gelesen werden kann: „Wäre Stalin nicht so böse gewesen, wie er war, so hätte der noch bösere Hitler die Sowjetunion überrannt — also ist Stalin vor (und von) der Geschichte gerechtfertigt. Was erzählt uns also dieser Solschenizyn?“ (Auch hier stand zweifellos das Wissen Pate, daß ein Prophet keiner mehr ist, wenn sich seine Klientel verläuft.)

Es wird Solschenizyn nicht leichtfallen, seine Position neu zu bestimmen. Der NOWOSTI-Kommentator Boris Koroljow, für den Solschenizyn ein aus dem Apfel gefallener Wurm ist, über dem sich der Sumpf des Vergessens schließen werde (ein sowjetischer Kommentator, der nicht schimpfen kann, hat seinen Beruf verfehlt), jubelt schon jetzt beim Gedanken, daß man Solschenizyn bei „Radio Liberty“ herumreichen wird, weil es dann noch leichter wäre, Solschenizyn als einen haßerfüllten Sowjetfeind abzustempeln. Der Druck jener Kräfte, die den durch seine Ausweisung in ihren Augen entwerteten Moralisten bis zum totalen Verbrauch seiner Glaubwürdigkeit einsetzen möchten, wird sicher stark sein.

Längst ist zu erkennen, daß die humanere Regelung ein Gebot der Klugheit war — was keine neue Entdeckung ist, aber als Möglichkeit für Stalin von Augstein konsequent heruntergespielt wird.

In der Sowjetunion selbst und in ihren Satellitenländern zeichnet sich jedoch kein Hoffnungsschimmer für etwas mehr Meinungsfreiheit ab. Was angesichts der Prominenz eines Solschenizyn das Regime zufriedengestellt hätte, hätte nur er sich dazu verstanden, nämlich Schweigen, kann den Literaturbehörden bei all den anderen, weniger Bekannten nicht genügen. Für Hunderte, Tausende von sowjetischen Dichtern, Schriftstellern, Komponisten, ausübenden Musikern und so weiter ist es nicht genug, den Namen Solschenizyn nie wieder in den Mund zu nehmen. Sie müssen nun ihr Plansoll an Beschimpfungen, Schmähungen, Verleumdungen erfüllen, Stachanowisten des Schmutzkübels.

Es ist schön wahr, daß sich das sowjetische Herrschaftssystem insofern humansiert hat, als weniger Menschen in die Zwangsarbeitslager geschickt und Ungebärdige nicht mehr erschossen, sondern in Irrenhäuser gesteckt und notfalls ausgebürgert werden. Was sich aber in der Sowjetunion Literaturbetrieb nennt, ist kein Maulkorbsystem, das das Aussprechen unerwünschter Wahrheiten verbietet, sondern ein System, das den ihm Unterworfenen das Maul aufreißt, wenn sie schweigen wollen. Und die sowjetischen Propagandaapparate im Westen brüsten sich jetzt mit den Hunderten von Zuschriften, in denen Solschenizyn von Sowjetschriftstellern, Sowjetmusikern und sowjetischen Bürgern verurteilt wird.

Kein Geringerer als Jewtuschenko ließ wissen, wie diese Verurteilungen zustande kommen. Weil er es abgelehnt hat, Solschenizyn in den Rük-ken zu fallen und statt dessen eine verbindlich formulierte Erklärung an Breschnew richtete, wurde ein bereits eingeplanter Fernsehauftritt Jewtuschenkos gestrichen. Und Jewtuschenko ist ein Prominenter. Die wemger Prominenten konnten, wollten sie nicht zumindest ihre Existenzbasis verlieren, nur den ihnen in die Hände gedrückten Schmutzkübel über Solschenizyn leeren. Die Befreiung des Menschen von der Entfremdung besteht in der sowjetischen Lesart, für Literaten, im Krümmen des Rückgrats, bis es bricht.

Wird Jewtuschenko etwa der nächste Solschenizyn? Ansätze in dieser Richtung, Bekundungen eines ungebrochenen Charakters, gibt es bei ihm schon lange. Aber was wird aus allen, die nicht so gut dichten, infolgedessen nicht so berühmt sind und sich nicht soviel Charakter leisten können? Und was wird aus den Jewtuschenkos anderer Länder — etwa aus einem Pavel Kohout in der CSSR? Auch für ihn wird das Klima jetzt wieder schlechter, und das Leben, nicht das intellektuelle, sondern das ganz alltägliche, schwerer.

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