6895754-1980_10_09.jpg
Digital In Arbeit

Im weiten Land „Irgendwo"

Werbung
Werbung
Werbung

Wir befanden uns unterwegs auf der Straße, nicht weit von ... War' ich nur besser in Geographie! Wo ich einmal gewandert bin, finde ich zwar ganz leicht wieder hin, meine Wegzeichen sind die winzigen, nur für mich bedeutenden Eindrücke: Das war doch die Stelle, wo die zwei traumschönen Segelfalter - hier müssen wir rechts gehen ... oder: Diese vom Sturm aus dem Erdreich gedrehte mächtige Baumruine, aus deren lange schon totem Holz im Frühling damals noch lichtgrüne Blattknospen kamen, Wunder der Lebenserneuerung, wenn auch nur anscheinend, kurzfristig nur, und zum Welken verurteilt, sobald der letzte Saft aus den dickeren Ästen aufgebraucht ist... der Weg war durch den Stamm blockiert, dahinter ging es weiter, und jetzt ist der Weg schon halb zugewachsen, weil da längst keiner mehr geht...

Kartenlesen aber - ich hab es als Kind gelernt - dazu habe ich keine Lust, mir scheint, das ist Männersache, und alles soll man den Männern nicht aus den Händen nehmen und sagen: Das kann ich auch.

Wir befanden uns also im weiten Land „Irgendwo".

Irgendwo gab es, hatte der junge Mann uns erzählt, die Ruine einer uralten Kirche, in der schon seit langem der Heilige Geist nicht mehr weht, sie ist zu einer Windmühle umgebaut worden, und jener Wind, der weht wo er will, ist abgelöst worden vom Wind, der die Kornmühlen treibt, weil wir praktischer denken; heute aber ist auch die Kornmühle nur noch Ruine der Bauern-Prosperität „und aber nach fünfhundert Jahren" 'Wird sie der industriellen Prosperität gewichen sein, und danach wird ir-gendeinmal auch das technische Zeitalter lang schon vorüber sein. Vorderhand weht der Wind hier leer, ohne andjes zu treiben als ei jenig Erde und Sand, oder im Winter den Schnee über den weiten Landschaftsraum des Marchfelds hin ... Der Turm ohne Windmühlenflügel war stehengebheben, kein Kirchturm, kein Glockenturm, und so typisch in seiner Form, daß der Zweck sich sogleich erraten ließ, zu dem er gebaut worden war. Genau so stehen noch einzelne Windmühleritürme in Flandern, auch sie in den meisten Fällen schon ohne Windmühlenflügel, und dort, wo so ein heiteres kreisendes Ding noch daranhängt, etwa in Lissewege, da ist es bewahrt, restauriert, tausendmal fotografiert worden, als Fremdenverkehrsattraktion.

Niemand wollte etwas sagen. Wir standen herum in der stummen Kulisse. Dann meldete sich der Himmel zu Wort mit einem Donnerschlag, und ein Guß wie aus vollen Kannen rauschte auf uns herab, fiel klatschend auf die hastig aufgespannten Schirme und trieb uns zurück in die Wagen. Lange dauerte das Unwetter allerdings nicht, es war nur eine Wolke, die plötzlich ausgelassen hatte, und wir konnten, auf der Bezirksstraße mit dem guten Belag angekommen, wieder aussteigen, um die Ebene ringsum, flach bis an den Horizont, zu betrachten. Der junge Mann erzählte ein wenig aus der Geschichte des Landes und über das so dicht mit den menschlichen Schicksalen verflochtene Schicksal der Landschaft.

Wir hatten die Heide erreicht und ließen die Wagen hintereinander auf der kaum je befahrenen Waldstraße stehen, um ein Stück zu Fuß zu gehen. Momentan regnete es nicht, also ließ ich den Schirm im Wagen. Die Frisur würde ohnedies aufgehen, ganz gleich ob sie naß wurde oder ob ich sie dem Wind aussetzte. Aber ich befand mich in jenem beglückenden Einklang mit mir selbst, in dem es mir egal ist, wie ich aussehe, weil ich mich nicht mehr von außen betrachtete - Glücklichsein ist ein Zustand, der die Spaltung aufhebt, die einen für gewöhnlich in ein Ich und in ein dieses Ich reflektierendes zweites Ich zerteilt.

„Das da", sagte der junge Mann, „das ist meine Landschaft. Früher war es eine Steppe, mit wenig Gras und Schafherden darauf, und ich bin nicht sicher, ob ich dem damaligen Zustand nicht nachtrauern soll... diese Kargheit kann viel ergreifender sein als die malerischeste Fremdenverkehrslandschaft. Hier gibt es nichts Spektakuläres zu sehen, darum ist jede Kleinigkeit schön und voll Bedeutsamkeit.. .Vor einigen Jahren wurde die Heide zum Naturschutzgebiet erklärt. Aber, was immer wir tun, wir tun etwas zu wenig oder etwas zu viel des Guten. Und seit es keine Schafe mehr gibt, die alles kurz abknabbern, was der Boden gewährt, auch die jungen Triebe von Pflanzen, die, größer geworden, verholzen, hat die schwermütig-schöne Heide sich wieder gewandelt. Büsche beginnen zu wachsen und stehen da und dort in der Grasfläche verteilt. Einzelne Wacholder bilden Gestrüppe oder stehen als spitz zulaufende Bäumchen vor dem Himmel ..."

So oder so ähnlich sagte er es, ich habe es so im Gedächtnis behalten und hinterher möglichst getreu formuliert. In mein Notizbuch habe ich nur ein Zitat aus dem Gedicht „Chid-her" von Friedrich Rückert geschrieben:

„Und aber nach fünfhundert Jahren will ich desselbigen Weges fahren ..."

Ein Baum, eine sehr alte, oftmals vom Wetter beschädigte Föhre stand ganz allein, nicht weit von unserem Weg in dem weiten Grasland. Und das Gras war, wieder einmal, so grün wie nie und nirgends sonst auf der Welt... Wenn es aber ein Paradoxon .4st,r wieder einmal" 'ZU schreiben, und dann hinzuzufügen „wie nie", so heiÄt das nur, daß die ParadtfxH eines gütigen Schöpfers einer Welt aus mindestens ebensoviel Bösem wie Gutem, aufgehoben wird in der großen Einheit der Seligkeit. Mitunter geschieht das ja sogar uns, ohne daß wir es bewußt herbeiführen könnten. In der heutigen Denk und Sprechgewohnheiten angepaßten Sprache nennt man das, glaube ich, Transzendenz. Nun gut, das ist nur ein Wort, würde mein Mann jetzt sagen.

Ich sage: Das ist ein Wort, schön und durchsichtig schimmernd wie eine lichtblaue Riesen-Meduse in einem ganz klaren Meer. Und ein zweites, nicht weniger lichtes und lichtvolles Wort gehört noch hierher: Transparenz. Auch wenn dieses mir liebe Wort in die Politik gezerrt wurde und das nicht ganz unbeschädigt überstanden hat. Ich meine damit jenen Zustand, in dem materielle Dinge durchsichtig werden und Schönheit abstrahlen. Das tun sie vermutlich immer. Nur wir können ihr Strahlen meistens nicht sehen, obwohl ich nicht glauben kann, daß es Menschen geben soll, die der Schönheit alles Geschaffenen niemals ansichtig werden. Immer erstrahlt alles im göttlichen Glanz, aber nur,- während wir selbst in einer bestimmten Metamorphose sind, die uns flüchtig in einen anderen Raum eintreten läßt, sind unsere irdischen Augen fähig, diese - die wahre -Schönheit zu sehen.

Schönheit entsteht durch Identifizierung mit dem angeschauten Objekt, und diese Identifizierung nennt man Liebe. Das Gras der Heide liebte ich jetzt, aber das Gras, das grün ist wie nirgends und nie sonst, das wunderbar seidige, schimmernde, kindliche, fröhliche Gras habe ich immer geliebt. In diesem Moment hat es sich mir wieder einmal als Glück und Schönheit geoffenbart, wie seit Jahren nicht mehr.

Beim Weitergehen fand der Professor, ein guter Josef, Nährvater der Tiere, einen großen, schwarzgoldgrün glänzenden Käfer. Helga sagte, ich fürchte bei jedem Ausflug, daß er mir sämtliche Feuersalamander mit nach Hause bringt, jeden muß er aufheben und streicheln. Da es ihm nun aber peinlich war, womögich einen Käfer zu liebkosen vor so vielen klugen Erwachsenen, brachte er ihn mir auf der flach ausgestreckten, freundlich-stämmigen Hand; mit einem verlegenen Lächeln hielt er ihn mir hin, und da ich sein Entzücken teilte, überließ er ihn mir sogar für eine Weile - Spüren, Angreifen, das ist ja ein wichtiger Teil der Vereinigung; und dann nahm er ihn wieder behutsam an sich. Gleich • darauf fand ich einen hübschen kleineren Käfer und zeigte ihn allen, und mir scheint, sie haben sich - Erwachsensein hin, Erwachsensein her! -alle daran gefreut. Der feinfühlige Jäger stand lächelnd daneben und nannte uns die Namen der Käfer. Er muß es inzwischen gemerkt haben, daß sein Versuch, uns an allem teilhaben zu lassen, was zu seinem Leben gehörte, auf der ganzen Linie geglückt war...

Bei Kerbtieren und Vögeln ist meine Kenntnis der Namen beschränkt. Aber man braucht ja für alles Namen, sonst könnte man niemandem ein Erlebnis mitteilen, und jede Freude, jede Schönheit, jede Seligkeit, die im Irdischen auftritt, kann sich, wie ein Stein, der ins Wasser fällt, überallhin weiterverbreiten als immer größer werdende konzentrische Wellen. Das Medium dazu ist für unsereinen die Sprache. Kommt ein Name bei jemandem an, der ihn kennt und ihm das richtige Bild zuordnen kann, so entsteht ja in seinem Bewußtsein wieder ein Abbild daraus, das Freude entstehen lassen kann, in genau dem Maß, in dem der Empfangende sich zur Metamorphose fähig erweist.

In der Bibel wird dem Adam die hübsche Aufgabe zugewiesen, allen anderen Geschöpfen einen Namen zu geben, wenn es sich auch nur auf die Tiere bezieht, das Gebiet der Botanik war offenbar dem Schreiber des 2. Kapitels Mose weniger interessant gewesen. Lassen wir also hier weg, was dem Adam gehört, ich halte mich an die Gewächse und sage, der einzelne Baum auf der Heide war viel schöner als der fatale Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, in seiner schwermütig-schwärzlich hinträumenden Knorrigkeit lag etwas, das mich zum Streicheln verleitete. Auf den untersten, beschädigten Ästen hatte sich die Rinde geschält. Gewiß, „dort konnte man stundenlang sitzen und träumen, ringsum nur die Weite des Heidelandes und über sich den Himmel, der sich in goldenen Netzen, aus Lerchengetriller fing..."

Das "hat, glaube ich, Aktäon dort draußen wirklich gesagt, wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt - das tut es ja oft; manchmal scheint es eigenwillig ein Black-out zu inszenieren, dann wieder fügt es sich allzu bereitwillig dem Anspruch der Phantasie, die es wegwinkt von seinem Platz, um sich an seine Stelle zu setzen.

Das Black-out in meinem Gedächtnis macht, daß mir die nächsten zwei Stunden nur Fakten hinterlassen haben: Daß wir wieder weiterfuhren und in einem schönen Gasthaus in einem Dorf schon ein großer Tisch vorbestellt auf uns wartete, an dem wir alle Platz nahmen, auch, daß das Essen gut war und ich mich mit dem stillen Kollegen unterhielt, über seine nächste Heimat, die Lobau, durch die er vor einem Jahr mit uns und einer ähnlichen Gruppe von Freunden gewandert war; und da hatten wir das kleine Museum dort mitten im Grünland entdeckt, darin ein Spruch an der Wand hing, den ich mir aufgeschrieben habe: „Das Unkraut ist die Opposition der Pflanzen gegen die Regierung der Gärtner." Denn dieser Spruch, er könnte ebensogut von mir sein, etwas Ähnliches ist in einem meiner frühen Gedichte ausgedrückt worden, wo das Unkraut und das Unnütze und das Glück gleichgesetzt sind und im Salbei symbolisiert, als Heilkraut gegen die Lebenswunde, an der wir leiden, seit wir vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen gegessen haben ... Daß ich nun daran wieder denken mußte, indes wir bei immer sich aufheiterndem Himmel durch die Ebene fuhren - sicher liegt es an der Atmosphäre dieser schicksalsträchtigen Landschaft - und viel Schicksal bedeutet in unserer Welt immer zugleich sehr viel Unglück -, über die so vieles hingegangen ist, die so viele, oft gewaltsam erzwungene Metamorphosen erlitten hat, und die, wie mir scheint, eben heute wieder inmitten eines solchen Umbruchs ins Künftige ist, von dem man nicht sagen kann, ob er den Menschen Wohlfahrt bringen wird oder tödliches Unheil.

Wir fuhren an diesem Tag auch ein Stück durch die Erdölfelder des Marchfeldes, nicht bis Zistersdorf, wo vielleicht die riesigen Bohrtürme stehen, die bis zu siebentausend Metern tief in das Herz der Erde eindringen - ein richtiger Herzstich, vor dem man schaudert; für die Menschen, die dort wohnen, bedeutet das Arbeit, die gut bezahlt ist, aber niemals gut genug für das, was sie vom Menschen fordert.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung