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Im Zeitalter des Aufstandes vieler Völker

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Der Giftgaseinsatz der Iraker gegen Kurden hat die Weltöffentlichkeit aufgeschreckt. Der Kampf der Palästinenser um ihr Land erschüttert nicht nur den Nahen Osten. Wie ist das eigentlich mit den Völkern ohne Staat?

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Der Giftgaseinsatz der Iraker gegen Kurden hat die Weltöffentlichkeit aufgeschreckt. Der Kampf der Palästinenser um ihr Land erschüttert nicht nur den Nahen Osten. Wie ist das eigentlich mit den Völkern ohne Staat?

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Die Zahl der Völker im ethnischen und meist zugleich auch im sprachlichen Sinn wird in der Encyclopedia Britannica und deren französischem Ableger, der Encyclopaedia Universahs und in der letzten Ausgabe der Großen Sowjetischen Encyklopädie mit rund 5.200 angegeben. Bedenkt man, daß es derzeit nur 159 Mitgliedsstaaten der UNO gibt, zu denen noch einige Dutzend Staaten kommen, die nicht UNO-Mit-glieder sind (wie zvun Beispiel Taiwan, die Schweiz und einige Kleinstaaten oder solche, die man aus politischen Gründen nicht in der UNO haben will wie die Türkische Republik Nordzypern oder die sogenannten Homelands im Süden Afrikas), so sieht man sofort, daß es sehr viel mehr Völker im ethnischen oder sprachlichen Sinne gibt als Staaten, die diesen Völkern zuzuordnen wären.

Soweit diese Völker (peoples im Sinne des Artikels 1 der beiden Welt-Menschenrechtspakte vom 16. Dezember 1966, worin das Selbstbestimmungsrecht aller Völker zur Völkerrechtsnorm erhoben wurde) keinen eigenen Staat, auch nicht in Form eines Gliedstaates in einer Föderation haben, handelt es sich um Völker ohne Staat.

Die Dachorganisation der Völker ohne Staat mit Sitz in Paris (Association des peuples sans etat) versucht, die Interessen gerade dieser Sprachvölker zu wahren. Aber solche Interessen werden auch ganz allgemein im Bereich des internationalen Minderheitenrechts von vielen Organisationen wahrgenommen.

Selbstredend muß man zwischen Sprachgemeinschaften imd Völkern im ethnischen Sinn unterscheiden. Die Zahl der heute noch gesprochenen Sprachen ist größer als jene der Völker, die in Verkennung der Realitäten (Nationalstaatsdenken) nicht selten „Nationen“ genannt werden, obwohl die UNO-Charta unter Nationen nicht Völker im ethnischen Sinne, sondern Staaten versteht.

Daß keineswegs alle Völker auch Sprachgemeinschaften sind, bedarf wohl keines Beweises. Es gibt auch Völker - sei es mit, sei es ohne eigenen Staat —, die keine eigene Sprache entwickelt oder sie faktisch auch verloren haben, aber eben doch Völker im Sinne von Artikel 1 der Welt-Menschenrechtspakte sind (Zyperntürken, Iren in Irland mit Ausnahme des Gaeltacht, die Baster in Namibia, Kaschuben, Roma und Sinti).

Der Versuch, für die Mitgliedsstaaten des Europarates eine „Charta der europäischen Regional- und Minderheitssprachen“ laut Beschluß der Parlamentarischen Versammlung vom 4. Oktober 1988 zu schaffen, zielt sicher auch auf eine Art Minderheiten- _ schütz ab, den das Europäische Parlament der EG ganz formell unternommen hat; aber das eigentliche Ziel, jedem Volk (also nicht nur Sprachvolk) seinen eigenen Staat zu verschaffen, ist offenkundig nicht zu erreichen.

Dieses Ziel wird gern mit der Völkerrechtsnorm des Selbstbestimmungsrechts der Völker angepeilt. Aber das Selbstbestimmungsrecht der Völker wird irrigerweise in der Loslösung des selbstbestimmungsberechtigten Volkes samt seinem Territorium („angestammte Heimat“) aus dem Staat, in dem es nun einmal zufolge der politischen Wechselfälle der Geschichte siedelt, gesehen, wofür es naheliegende Beispiele gibt wie die Südtirolfrage; aber es gibt auch außer dem sogenannten externen Selbstbestimmungsrecht das interne Selbstbestimmungsrecht - praktisch in der Erscheinungsform der Autonomie. Dafür gibt es genügend gute Beispiele (Faröer, Grönland, Aaland-Inseln, Autonomien in Spanien, teilweise solche in Belgien).

Wenn das selbstbestimmungsberechtigte Volk einer solchen Regelung mit entsprechender Mehrheit (Plebiszit) zustimmt, ist das Problem „Völker ohne Staat“ juristisch und soziologisch gelöst.

Der Nationalstaat wird immer noch in vielen Staaten verherrlicht - vor allem in Frankreich, wo Völker und Volksgruppen leben, die ihren eigenen Staat haben möchten (Korsen, Bretonen, Basken) und deshalb grausam unterdrückt werden, wie man im Dezember 1988 bei den Polizeimaßnahmen gegen „Euskadi“ in Bayonne erleben konnte. Aber jedem Volk seinen eigenen Nationalstaat zu sichern, erweist sich faktisch auch als unmöglich und in vielen Fällen gar nicht wünschenswert, wenn man die Friedenssicherung als oberstes Gebot im Zusanmienleben von Völkern und Staaten sieht.

Daß zum Beispiel die Sami („Lappen“ genannt, siehe Seite 11), die auf mehrere Staaten verteilt leben, keinen eigenen Staat haben können, liegt auf der Hand, und sie streben solches auch gar nicht an. Die seit Jahren aufgeheizte Streitfrage von Les Fou-rons/Voeren in Belgien ist nicht durch Selbstbestimmungsrecht (außer durch Schaffung eines staatsunmittelbaren Verwaltungsbezirkes) lösbar.

Minderheitenschutz

Wenn man die heutige explosive Lage in Jugoslawien, im Kaukasus und im Baltikum betrachtet, weiß man, daß die dortigen Konfliktsituationen nur so zu lösen sind, daß den betroffenen Völkern das Recht auf einen eigenen (Glied-)Staat mit voller Autonomie eingeräumt wird. Da es nirgendwo reine Nationalstaaten geben kann, ist das Problem „Völker ohne Staat“ nur durch einen entsprechenden Minderheitenschutz der in einem Nationalstaat lebenden Völker und Volksgruppen lösbar.

Man spricht heute nicht selten vom Aufstand der ethnischen Minderheiten. Dort, wo solche tyrannisiert, diskriminiert oder gar liquidiert werden - wie dies für die Magyaren und die Siebenbürgener Sachsen, und Banater Schwaben in Rumänien gilt -.ist auch der „Aufstand“, was immer das sei, ein Mittel der Friedenssicherung. Ahnliches mag für die moslemischen Türken in Bulgarien, für Kurden (siehe Seite 10) und Yezidis in der Türkei gelten.

Aber ganz allgemein kann man nicht sagen, daß es völkerrechtlich ein Unrecht wäre, wenn Völker keinen eigenen Staat haben -zumal der Begriff „Volk“, „Nation“, ja sogar „Sprache“ vieldeutig ist. Wichtig ist nur, daß ganze Völker, die in grenzüberschreitenden Regionen geschlossen siedeln. Selbstbestimmungsrecht in einer Form ausüben können, die es ihnen ermöglicht, den Staat oder die Staaten, in denen sie leben, auch als ihren Staat zu bejahen; was voraussetzt, daß die völkerrechtlich definierten Menschenrechte ihnen dort gewahrt sind und somit auch die Staatsgrenzen durchlässig und durchsichtig gemacht werden. Hier kommt es also darauf an, daß das Nationalstaatsdenken überwunden wird.

Völker ohne Staat wird es immer geben, aber Völker in sie verfolgenden Staaten (Kurden, Tamilen, Sikhs) oder diskriminierte ethnische Minderheiten sollte es in einer Welt, die sich an die Charta der Vereinten Nationen und an die Weltmenschenrechtspakte zu halten hat, nicht geben und geben dürfen — dies schon gar nicht im Bereich der Mitgliedsstaaten der KSZE. Andernfalls wird das Weltflüchtlingsproblem noch fürchterlicher, als es heute ohnehin schon ist.

Oer Autor, Völkerrechtler, Honorarprofes-K)r an der Universität Innsbruck, ist Experte für Nationalitätenrecht und Regionalismus.

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