7071471-1993_02_14.jpg
Digital In Arbeit

Im Zentrum der Peripherie

Werbung
Werbung
Werbung

Mitteleuropa: dieser Name klingt heute fast schon wie Atlantis. Noch vor gar nicht langer Zeit, als der Vorhang zwischen den verschiedenen Europas noch eisern und nicht tintenblau war, ließ sich der Begriff gut instrumentalisieren für progressiv getünchte, re-staurative Ideologien. Heute ist diese Mitteleuropa-Konzeption, die allzu willfährig in der EG aufgegangen zu sein scheint, verschwunden wie weiland Atlantis.

Karl-Markus Gauß setzt in vorliegender Anthologie diesem Mitteleuropa-Begriff nicht nur in seinem grandiosen einleitenden Essay, sondern mindestens ebenso mit den 42 literarischen Texten von Autoren aus den Ländern zwischen Rußland und EG-Europa den Begriff Ränder entgegen, weil dieser sich nicht in mystischer Romantik auf der einen und ökonomischen Absichten auf der anderen Seite erschöpft. Ihm geht es mit diesem Band darum, endlich einmal jene Menschen ihre Eigenarten und Kulturen vorstellen zu lassen, über die im Westen so gerne mit Präpotenz und Ignoranz geurteilt wird.

Was Gauß hier auf 400 Seiten zusammengetragen hat, ist ein kulturhistorisches Lesebuch der besonderen Art. Eingeteilt in acht Kapitel, die jeweils mit einer kurzen Einführung versehen sind, läßt diese Sammlung vieles, was heute im ehemaligen Ostblock vor sich geht, besser verstehen. Bereits im ersten Text berichtet der Nobelpreisträger Ivo Andric in seinem „Brief aus dem Jahr 1920” davon, wie sehr Bosnien „ein Land der Angst und des Hasses” ist. Und den Schluß bildet der Essay des Albaners Ardian Klosi, der anhand der albanischen „Wirtschafts-Flüchtlinge” nach Griechenland die Lächerlichkeit solcher Begriffe aufzeigt. Dazwischen beschreibt zum Beispiel der Brünner Oskar Jellinek in kafkaesker Manier wie selbst eine Begnadigung noch zur behördlichen Willkür und Strafe werden kann.

Wer sich nicht die sicher lohnende Mühe des Herausgebers machen kann oder will, alle Bücher, aus denen hier Auszüge abgedruckt sind, zu lesen, der sollte, bevor er das Wort Europa noch einmal in den Mund nimmt, diese Anthologie gelesen haben.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung