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Im Zwangskorsett

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Auch wenn die sowjetischen Vertreter auf der KSZE-Menschenrechtskonferenz in Ottawa westliche Anschuldigungen über die Diskriminierung von Religionsgemeinschaften noch so sehr bestreiten: Die Situation für Kirche wie Gläubige in der UdSSR ist trist, ja hat sich teilweise sogar wieder verschärft.

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Auch wenn die sowjetischen Vertreter auf der KSZE-Menschenrechtskonferenz in Ottawa westliche Anschuldigungen über die Diskriminierung von Religionsgemeinschaften noch so sehr bestreiten: Die Situation für Kirche wie Gläubige in der UdSSR ist trist, ja hat sich teilweise sogar wieder verschärft.

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Heit bekannterweise in der sowjetischen Verfassung ja garantiert. Das freilich hat die staatlichen Behörden noch nie daran gehindert, auf die verschiedensten administrativen Mittel und Maßnahmen zurückzugreifen, um die Tätigkeit der Religionsgemeinschaften in sehr beschränkten Bahnen zu halten und gläubige Menschen im Zivilleben zu diskriminieren.

Das Verbot des organisierten Religionsunterrichtes, die staatliche Kontrolle über die Zahl der Priester-Kandidaten sowie über

Druck und Verbreitung religiöser Literatur sind nur einige Beispiele für das Zwangskorsett, in das das Sowjetregime die Religionsgemeinschaften hineingezwängt hat.

Nicht genug damit: In praktisch allen wichtigen Angelegenheiten wie Finanzen, Personalwesen, Wirtschaftstätigkeiten, Organisationsfragen, Bauvorhaben, Dienstreisen, Lehranstalten und Publikationswesen müssen sich die Glaubensgemeinschaften an das staatliche Kirchenamt beziehungsweise an den zuständigen Rat für religiöse Angelegenheiten wenden. Die Kontrolle des Regimes scheint umfassend.

Betroffen werden Gläubige in der UdSSR darüber hinaus von einer Reihe neuer Gesetze, die zwar für alle Sowjetbürger gelten, die es den Behörden aber erlauben, verschärft insbesondere auch gegen mißliebige religiöse Menschen vorzugehen.

So gibt ein Absatz 3 zu Artikel 188 des sowjetischen Strafgesetzbuches Verwaltern von Gefängnissen und Straflagern die Möglichkeit, eine von einem Gericht ausgesprochene Haft wegen „Un-botmäßigkeit” zu verlängern; ein neuer Artikel 198/3 erlaubt darüber hinaus die Ausdehnung der Verbannung um drei Jahre. Kommentierte Pfarrer Eugen Voss, Leiter des ökumenischen Institutes „Glaube in der 2. Welt”, bei einem Vortrag in Wien:

„Ein fehlender Knopf an der Jacke eines Strafgefangenen öffnet so der Willkür Tür und Tor und eine Reihe von Christen hat das schon zu spüren bekommen. Mit diesen neuen Strafmaßnahmen ist das Sowjetregime zur ewigen Zwangsarbeit der Zarenzeit zurückgekehrt.”

Ein Artikel 209 des sowjetischen Strafgesetzbuches wiederum hält fest, daß wer vier Monate beschäftigungslos ist, verhaftet und für zwei Jahre ins Gefängnis gesteckt werden kann („Parasitengesetz”).

Auch hier sind der Behördenwillkür Tür und Tor geöffnet. Denn wer zum Beispiel aus der Sowjetunion auswandern will, verliert seinen Arbeitsplatz und gerät so gewissermaßen automatisch in die Mühle der Repression, sprich: des „Parasitengesetzes”. Daß hier neben Juden vor allem auch Christen betroffen sind, zeigt sich etwa an der Tatsache, daß man von rund 30.000 Pfingst-christen weiß, die die Sowjetunion verlassen wollen (siehe auch Seite 6).

Auslandsfeindliche Maßnahmen wie die Erschwerung der Kontakte von Sowjetbürgern mit Ausländern durch den Erlaß des Obersten Sowjets vom 25. Mai 1984, die Behinderung des Telefonverkehrs und die Aufhebung der Möglichkeit zur Vorverzollung von Paketsendungen in die Sowjetunion wiederum treffen besonders Religionsgemeinschaften, weil sie von ihrem Selbstverständnis her Grenzen von Staaten und gesellschaftlichen Systemen überschreiten.

All diese Dinge veranlaßten Harri Mötsnik, Pastor der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, zu der Feststellung: „Die Wurzeln der Bosheit liegen in den Gesetzen!”

In einem in Nummer 4/1985 der Zeitschrift „Glaube in der 2. Welt” veröffentlichten Artikel schreibt Mötsnik unter anderem: „Gemäß dem Grundgesetz ist die Kirche vom Staate getrennt. Meinem Verständnis nach müßte die Kirche völlig selbständig sein. In Wirklichkeit aber ist die Trennung ein Betrug. Der Staat hat sich von allen Pflichten befreit, aber die Rechte behalten, sich in das Leben der Kirche einzumischen, sie zu kontrollieren. Die Gesetze, die das kirchliche Leben regeln, sind ungerecht.”

Mötsnik dann noch eine Spur schärfer und konkreter: „Nur von der Kanzel aus ist die Verkündigung des Evangeliums möglich. Wenn die Atheisten von Glaubensfreiheit reden, so ist dies die allerhäßlichste Lüge. Was ist denn das für eine Freiheit, wenn es bisher nicht gestattet war, Bibeln und Gesangsbücher zu druk-ken, nicht einmal zu Martin Luthers 500. Geburtstag!”

Solch offene Worte aus dem Munde eines in einer Sowjetrepublik wirkenden Geistlichen sind rar. Kein Wunder: Natürlich überwacht der Geheimdienst die Tätigkeit der Gemeindehirten genau. Und alle ihre Äußerungen, die im westlichen Ausland den Schein einer alles in allem doch „heilen Welt” der Religionsgemeinschaften in der UdSSR trüben könnten, werden mit dem Stempel „antisowjetisch” versehen. Dieser „Stempel” aber ist vielfach gleichbedeutend mit einer Fahrkarte ins Gefängnis oder ins” Straflager.

Die vielen vorsichtigen Stellungnahmen von religiösen Amtsträgern in der Sowjetunion gegenüber westlichen Besuchern oder gegenüber offiziellen kommunistischen Massenmedien dürfen deshalb niemanden verwundern.

Vom KGB beschattet

Ein Beispiel: In einem der FURCHE von der sowjetischen Nachrichtenagentur Nowosti/APN zur Verfügung gestellten Bericht über das Priesterseminar im litauischen Kaunas^ wird der Rektor des Seminars, Professor Vik-toras Butkus, mit folgenden Worten zitiert: „Die Kirche ist in der UdSSR vom Staat getrennt und der Staat mischt sich in die Angelegenheiten religiöser Vereinigungen, darunter auch der geistlichen Studieneinrichtungen, nicht ein.”

Soweit Professor Butkus laut Nowosti. Demgegenüber hält Rudolf Grulich, einer der besten Kenner der religiösen Situation in den baltischen Staaten, in einer Analyse in der Zeitschrift „Glaube in der 2. Welt” fest:

„Trotz Trennung von Kirche und Staat bestimmt der Staat über das Theologiestudium; 50 Prozent der Gesuche für das einzige Priesterseminar in Kaunas werden jedes Jahr abgelehnt. Nur dieses Seminar in Kaunas der ursprünglich vier Seminare in Litauen ist geblieben. Auch im Seminar wird man vom KGB beschattet.”

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