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In Brüssel ticken politische Bomben

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Wenn an diesem Wochenende die Chefs der zehn sozialistischen Parteien in der europäischen Gemeinschaft im Brüsseler Schloß Egmont zusammenkommen, um eine gemeinsame Marschroute für die ersten Direktwahlen zum europäischen Parlament festzulegen, werden sie kaum umhin können, wenigstens mit dem linken Auge eine retrospektive Erfassung der jüngsten Vorgänge in der belgischen Viel-parteienregierung zu versuchen.

Die unitaristische Gegenwart in der Ubergangsphase zu einem quasiföderativen Königreich, das Wallonen, Brüsseler und Flamen in getrennten Gemeinwesen vereint halten soll, leidet unter fortgesetzten Wirtschaftskrisen und dem ungesunden Zustand seiner Staatsfinanzen. Seit einem Jahr stehen sich im Kabinett Tindemans 29 Regierungsmitglieder mit versteckten oder gar gezogenen Messern gegenüber. Sie hatten eine Doppelaufgabe vor sich: die Vorbereitung der Staatsreform - um dem immerwährenden Kultur- und Sprachenstreit ein Ende zu bereiten - und die Ausarbeitung energischer Maßnahmen gegen die Wirtschaftskrise, die schwer auf dem, belgischen Staat lastet. Das im „Eg-mont-Pakt“ geschlossene Ubereinkommen der Mehrheitsparteien zur Staatsreform hatte vor allem in Flandern und in den Randgemeinden von Brüssel heftigen Widerstand hervorgerufen. Die Gegner schlössen sich im „Egmont-Komitee“ zusammen, denn sie fürchteten weiterhin, von den französischsprechenden Wallonen und Brüsselern dominiert und wirtschaftlich ausgenützt zu werden. Von den Mehrheitsparteien splitterten sich in Flandern neue „Volks“- und „Natio-nal“-Parteien ab.

Die französischsprechenden Parteien dagegen drängen zur Eue bei der Herstellung der Autonomie von Wal-Ionen und Brüssel. Das frankophone Gemeinschaftsbewußtsem überdeckte die Differenz zwischen den Parteien. In einer zügig durchgeführten Staatsreform und der möglichst gleichzeitig durchgeführten Sanierung der Staatsfinanzen sahen die Frankophonen Vorteüe zur Uberwindung ihrer Wirtschaftsprobleme.

Nach dem Wülen der Regierung Tindemans sollten, die ökonomischen und sozialen Engpässe mit HUfe eines Anti-Krisen-Gesetzes bewältigt werden, wozu das Parlament der Regierung Sondervollmachten erteilen mußte. Wie schwierig diese zu erlangen sind, geht schon aus der Tatsache hervor, daß etwa 80 Prozent der Res-

sortausgaben in den Händen sozialistischer Minister liegen und nur knapp 20 Prozent von Ministern der „Christlichen Volkspartei“ (CVP) verantwortet werden. Anderseits übt der CVP-Staatssekretär Eyskens die Gesamtkontrolle über den Staatshaushalt aus. Hierin liegt ein Teü der Spannungen und Zwischenfälle begründet, die der Regierung Tindemans den Vorwurf eingetragen haben, es werde nicht regiert. Eine wesentliche Quelle der Regierungsblockierung aber muß auch im ungewöhnlich starken Einfluß der Parteizentralen auf die Regierungsmitglieder gesehen werden. Hinzu kommt der Druck gewisser Potentaten an der Spitze von Interessengruppierungen, denen das Nachgeben nur um den geringsten Preis zur verengten Weltanschauung geworden ist.

Das Mißtrauen unter den Regie-ruhgspartnern nahm unterdessen ei-

nen solchen Umfang an, daß Tindemans am vorigen Donnerstag dem Staatsoberhaupt seinen Rücktritt einreichte. König Baudouin jedoch ersuchte Tindemans „im Hinblick auf den ernsten Zustand der Wirtschaft und des Staatshaushalts, der regionalen Probleme und der internationalen Lage um eine erneute Anstrengung zur Lösung der Krise.“

Belgiens demissionärer Ministerpräsident stürzte sich wiederum in das Konsultationskarussell. Am Montag Morgen scharte er die sechs Vorsitzenden der Mehrheitsparteien um sich. Frankophone und Sozialisten bestanden auf gleichzeitiger Vorlage des Anti-Krisen-Gesetzes und der Staatsreformtexte im Parlament, die Christdemokraten und Tindemans selbst waren dagegen. Doch das vierstündige Palaver endete mit neuen Kompromissen. Die Staatsreform wurde in eirt detaüliertes Zeitschema gepreßt. Zur Beseitigung des Wohlstands-Fettpolsters, mit dem Belgien bisher zu leben gewohnt war, wurden Zugeständnisse gemacht. Die Parlamentsferien sind nicht gefährdet.

Nachdem das Staatsoberhaupt den Rücktritt der Regierung Tindemans am Montag Nachmittag definitiv abgelehnt hatte, kann weiterregiert werden. Wie lange, weiß niemand. Einige politische Bomben mit Langzeitzünder ticken jedenfalls noch unter dem Kabinett. Die sozialistischen Parteichefs der EG könnten sich an diesem Wochenende in den Inhalt dieser Polit-Bomben einweihen lassen. Die wirklich spannenden Zeiten stehen Belgien erst noch bevor.

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