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Digital In Arbeit

In das Auge der Kuh

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Er hat die Chance nicht genützt. Er scheiterte, als er mit der Vorstellung, wie er an das Dorf herankäme, daranging, sie zu verwirklichen. Die einfache Vorstellung vom Dorf war ihm abhanden gekommen seit dem Tag, da das Dorf ihn ignorierte. Er habe ein grünes Gesicht, sagten die Leute im Dorf, und das hieß, er sehe alles anders.

Die Chance zum Beispiel sah er nicht. Er hätte nur sein grünes Gesicht ablegen müssen, und die Ka-stanienblüte, die pyramidenförmige, wäre von jeder Kuh angenommen worden. Kühe stehen nicht mehr auf der Straße, und

wenn sie der Fleischer beim Bauern abholt, benützt er einen Brük-kenwagen. Doch es gibt Menschen mit Kuhaugen. Aber nicht im Dorf; der Blick aus diesen Augen hätte mit Geduld festgestellt, daß er eine Kastanienblüte in der Hand halte. Das sehen nur Kinder oder Fremde, Sommergäste, die das Dorf mit andern Augen betrachten.

Ein Fremder ist er nicht mehr; zehn Jahre Ansässigkeit geben ihm das Bürgerrecht, auch hat er ein Haus gebaut und die Hilfe der Leute gegen Bezahlung beansprucht. Sein Haus trägt eine Nummer, er zahlt Steuern an die Gemeinde. Der Bürgermeister grüßt ihn, zumal wenn der Tag der Wahl kommt. Er geht täglich durch das Dorf, wenn er zur Arbeit fährt, zum Bauern um die Milch, zum Krämer, der, extra für ihn, seinen Tabak führt. Dort hört er die kleinen Geschichten, die er im Handumdrehen wieder vergißt. Aber er nimmt den Erzähler ernst; die Geschichten spiegeln sich auf den Gesichtern und lassen ihn alles im voraus wissen.

Die Geschichten sind immer dieselben, die Gesichter nicht. Das, was die Leute sagen, sagen sie mit eigenen Worten, weil sie das, was sie sehen, verwandeln. Dadurch kommt es zu einer Geschichte. Er nimmt die Leute ernst. Das regt sie an. Sie übersehen sein grünes Gesicht.

Er geht zur Melkerin in den Stall, tut, als wäre ihm alles vertraut und sähe auch das nicht, was die andern nicht sehen, riecht das Heu, die Kuhfladen und die Ausdünstung der Körper nicht; Kuh, Melkerin und sein grünes Gesicht schließt ein Kreis ein, der ihm vertraut ist in den Augenblicken, 'da er im Stall steht und spricht. Sie glauben ihm, bestätigen ihn, und die Melkerin sieht sein grünes Ge-

sieht nicht oder es ist ihr vertraut. Die Kastanienblüte verbirgt er im Rücken.

Die Melkerin sieht die Kastanienblüte nicht, riecht sie auch nicht. Sie sitzt am Bauch der Kuh, auf dem einbeinigen Hocker, und der Strahl der Milch, abwechselnd aus zwei Stricheln gezogen, trifft tönend an den Eimerrand. Sie spricht am Kuhbauch vorbei und fragt nicht, was er im Rücken verbirgt. Was er bringt und in den Händen hält, sind Kannen und Geld, und in der Wiederkehr von Kannen und Geld sieht sie ihn. Er verlangt keine Ausnahme. Er spricht mit ihr über das, was sie betrifft, schließt den Kreis immer enger, bis er schweigt, und deutlich wird, daß er nach Worten sucht. Da schweigt auch sie und entläßt ihn mit der Blüte und den vollen Kannen.

Es ist die Zeit - sechs Uhr am Morgen —, da die Mäher mit den Sensen auf der Schulter über den Dorfplatz gehn, gemächlich hinter dem Traktor her. Er trifft den Mann der Melkerin. Der mäht jeden Morgen Grünfutter. „Grün ist mein Gesicht“, denkt er und trägt die Kannen sichtbar. Der Mann aber sieht sein grünes Gesicht nicht oder ist blind vor Arbeitseifer. Die gewohnte Arbeit engt ihn ein, oder der rote Kreis, der um den Dorfplatz liegt und unsichtbar umschließt, was da zusammenkommt. Auch ein verblassender Mond ist darin.

Er trägt die Kannen heim. Die Kannen sind warm von der Milch. Die Luft, die von den Häusern eingeschlossen wird, die ihre Türen auf den Platz hinaus offen haben, wärmt wie tierischer Atem. In dieser Stunde spürt er Gemeinsamkeit. Das Gemeinsame ist die Arbeit, die jeder kennt, jeder von jedem. Es braucht nur jemand aus der offenen Tür zu sehn - sie wissen, was er tut und was er im nächsten Augenblick tun wird.

Oft schaut der Kirchendiener aus der offenen Turmtür, wartet den Schlag der Glocke ab, um den Tag anzuläuten.

Der Mann hat Zeit und sieht die Mäher vorbeigehn. Seine Haltung ist teilnahmslos. Er wendet sich um, die Milch in den Kannen schwappt, hebt den DeckeL Die Leute sehen, daß er stehen bleibt,

und denken: der will etwas sehn.

Er sieht den Kirchendiener, der auf die Stunde wartet. Der Mann spricht ihn an, wenn sie sich begegnen, zählt Generationen auf, Geburts- und Sterberegister. Der ist auch Totengräber, und wenn der von seinem Handwerk spricht, schweigt er und hört zu. Er schweigt viel und hört zu. Die Leute hören nicht zu. Sie reden, und weil er schweigt, reden sie so lange, bis sich ihr Gerede verläuft. Wenn sie verlegen schweigen, wird er sich seines grünen Gesichts bewußt. Er möchte es verbergen. Der andere sieht das grüne Gesicht nicht, hört nur das Schweigen. Das ist dann der Zweifel an der Wahrheit des Gesagten. Der darf nicht lange zwischen ihm und dem andern sein, deshalb hebt er die Kastanienblüte, damit sie der andere bemerkt. Der sieht die Kastanienblüte und kichert. Ja, natürlich, eine abgefallene Kastanienblüte, die riecht gut, oder wie kommt man dazu, eine Kastanienblüte in der Hand zu halten? Er rechtfertigt das Schweigen mit ihr: ich habe an die Kastanienblüte gedacht, während du sprachst.

Auch der Bürgermeister findet ihn ungemütlich. Der ist ein Mann, den die Pflicht zur Geselligkeit im Kreis führt. Stammtischvorsteher. Oder sie machen ihn fertig beim Trinken. Er hat nur amtlich zu tun mit dem Bürgermeister und zieht es vor, nur in dringenden Fällen in der Gemeindestube vorzusprechen oder einen Plan einzusehen. Oft tarnt er sich mit einer dringlichen Frage, um den Bürgermeister zu sehn. Der schaut vom Tisch auf und sieht ihn an. Ein übereiltes Wohlwollen tritt auf dessen Gesicht, eine Freude, ihn zu sehn, während er gepanzert und sicher hinter dem Schreibtisch sitzt. „Sieh mal einer an, was will denn der heute?“ Er will nichts. Doch das glaubt man nicht. Er will etwas, was andere nicht wollen. Er ist gefährlich. Er hat ein grünes Gesicht. Der Bürgermeister sieht das besser als die andern. Aus der Kastanienblüte wird eine Waffe. Der Bürgermeister muß für jeden etwas bereit haben, ein Wort, eine Auskunft, Verständnis. Der hat Routine, Beschwichtigungstaktik. Man spricht um etwas herum.

Die wichtigen Dinge werden anderswo erledigt, so unter sich. Da ist eine Graue Eminenz dabei. Die

sieht er nicht. Man wird sie ihm auch nicht zeigen. In seinem grünen Gesicht würde sich die ganze Politik verkehrt spiegeln, also so wie sie ist. Dem geht der Bürgermeister aus dem Weg, indem er sagt: „Guten Tag, wünschen Sie mich zu sprechen? — Das ist Sache des Landes, mein Herr, wir können da nichts machen, also auf Wiedersehn!“ Das ist sehr freundlich. Der Mann hat seine Pflicht getan, etwas die Sache einer andern Behörde sein zu lassen.

In der Mitte des Dorfplatzes ist ein roter Kreis. Sein grünes Gesicht wird dort besonders auffällig. Er meidet den Kreis. Aber es zieht ihn dorthin, wenn er des Alleinseins müde ist. Die Melkerin, die Mäher, der Kirchendiener, Leute, die mit ihm sprechen, wobei er manchmal das Gefühl hat, zu ihnen zu gehören, leben in dem Kreis. Worauf es ankommt, weiß er genausogut wie die andern. Beruhigung. Einer redet dem andern zu. Das macht farbenblind. Und bevor jemand dahinterkommt, was es mit seinem grünen Gesicht auf sich hat, geht er.

Er kennt das Maß der Zurückhaltung, das gibt ihm das grüne Gesicht oder die Kastanienblüte in der Hand ein. Zwischen dem Dorf und ihm gibt es kein Band. Die Häuser könnten auf dem Kopf stehn, blau, rot oder gelb, die Mäher über einen verschneiten Dorfplatz gehn, für ihn wäre das nicht außergewöhnlich.

Manchmal, wenn er sich im Gespräch mit der Melkerin festgefahren hat, sieht er plötzlich einen Ausweg im Auge der Kuh. Dort spiegelt sich die Umgebung in der Pupüle, Gegenstände, Mauern und mittendurch ein Ausweg, ein Loch in der Wand. Er möchte ins Auge der Kuh steigen und den Fluchtweg nehmen. Das würde der Melkerin und den andern imponieren. „Der mit dem grünen Gesicht und mit der Kastanienblüte in der Hand kann durch das Auge der Kuh gehn!“ Man würde sich um seine Bekanntschaft be-mühn. Der Kirchendiener käme zum Pfarrer gelaufen, der Bäcker, Schmied, Fleischer und Krämer würden am Dorfplatz stehn und das Ereignis besprechen, die alte Frau käme aus der Kammer, das Kind aus dem Hof, die Weiber aus Küche und Hausgarten, die Männer, Arbeiter mit Autos, aus dem

Wirtshaus. Man würde sich nicht einigen, was es ist.

Die Männer würden mit den Weibern schäkern, das Wort eines Weibes hat die Bedeutung ihres Aussehens, ihres Ansehens, leicht ist den Männern lieber, und sie würden die Weiber stehn lassen und wie auf Befehl das Wirtshaus betreten, noch immer ohne Lösung. Beim Bier würden sie die Frage vergessen, und er, der die Zusammenrottung als Bedrohung deutete, würde den Fluchtweg im Auge der Kuh weiter verfolgen. „Daß er anders ist als wir, haben wir gemerkt.“

Sein Gesicht wird immer grüner, der rote Kreis auf dem Dorfplatz dunkler, die Häuser werden farbiger, er trägt eine weiße Schirmmütze, die Kastanienblüte leuchtet in seiner Hand, an seinem Zeigefinger steckt ein Ring; jetzt ist er vollkommen der Flüchtige, zeigt dessen Wesen, und im Wirtshaus atmen die Männer auf; sie haben ihn vergessen. Er kommt auf der Flucht nirgends vorbei, bleibt unangesprochen.

Die Melkerin achtet darauf, daß er wöchentlich die Milch bezahlt. Er ist bekannt dafür, daß er bezahlt, wenn er etwas bekommt. Das Geld ist hart und klingt. Er bezahlt damit seine Flucht. Niemand hielt es für möglich, daß er nicht mehr zurückkäme. Durch das Auge der Kuh gehen sie schließlich alle; der Bäk-ker, wenn er Brot bringt, Pfarrer und Kirchendiener auf einem Versehgang, der Fleischer, wenn er die Kuh holt.

Sie haben gegen sein grünes Gesicht Abneigung. Ganz im stillen hoffen sie, daß ihm die Flucht gelingt. Heimlich bewundern sie ihn, beneiden ihn aber nicht. Er besitzt nicht viel, doch sein pünktliches Zahlen beweist, daß er mit dem wenigen haushält. Ein Siedler, wie alle, die kamen, ein Stück Grund erwarben und ein Haus errichteten. Häuser wie aus einem Sack. Er machte die Ausnahme, baute flach, strich die Fassade schwarz und weiß. Man gewöhnte sich an die Ausnahme. Nur er selbst nicht. Er verteidigt den Widerstand, um gefährlicher zu leben.

Die Flucht deutet man als Selbstaufgabe. Er hält die andern in dem Glauben, widerlegt ihn mit kleinen Abweichungen; daß sie seinen Gang ins Auge der Kuh, die schon beim Fleischer ist, mißdeutet haben, findet er in Ordnung. Sein Gesicht ist noch grüner, die Kastanienblüte leuchtet weiß. Er kann es kaum erwarten, daß sie ihm einen neuen Fluchtweg weisen. Er wird sie durch sein Verhalten dazu zwingen.

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