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In der 3. Welt: Stall ohne Stern

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Immer mehr Menschen verschicken statt konventioneller Gratulationsbilletts die sogenannten UNICEF-Kar-ten, deren Reingewinn Kindern, vor allem in der Dritten Welt, zugute kommt. Von den 164 Millionen Dollar, die der UNICEF, dem Kin-derhilfswerk der UNO, 1977 zur Verfügung standen, stammten immerhin 15 Prozent von Privatleuten. 1979 wird ein besonders entscheidendes Jahr für alle Organisationen, die sich der Arbeit für die notleidenden Kinder verschrieben haben: Das kommende Jahr wurde von den Vereinten Nationen als Jahr des Kindes proklamiert. Eine gute Wahl. Denn von den anderthalb Milliarden Kindern auf der Welt, von denen die meisten weniger als 10 Jahre alt sind, leidet ein großer Teil Not. Sie kann im Jahr des Kindes sicher nicht beseitigt, wohl nicht einmal drastisch verringert werden - wenn eine Wende zum Besseren sichtbar wird, ist schon sehr viel getan. Das aber sollte doch möglich sein. Freilich nur dann, wenn der einzelne im Westen die Verantwortung, die auf ihm liegt, zur Kenntnis nimmt.

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Immer mehr Menschen verschicken statt konventioneller Gratulationsbilletts die sogenannten UNICEF-Kar-ten, deren Reingewinn Kindern, vor allem in der Dritten Welt, zugute kommt. Von den 164 Millionen Dollar, die der UNICEF, dem Kin-derhilfswerk der UNO, 1977 zur Verfügung standen, stammten immerhin 15 Prozent von Privatleuten. 1979 wird ein besonders entscheidendes Jahr für alle Organisationen, die sich der Arbeit für die notleidenden Kinder verschrieben haben: Das kommende Jahr wurde von den Vereinten Nationen als Jahr des Kindes proklamiert. Eine gute Wahl. Denn von den anderthalb Milliarden Kindern auf der Welt, von denen die meisten weniger als 10 Jahre alt sind, leidet ein großer Teil Not. Sie kann im Jahr des Kindes sicher nicht beseitigt, wohl nicht einmal drastisch verringert werden - wenn eine Wende zum Besseren sichtbar wird, ist schon sehr viel getan. Das aber sollte doch möglich sein. Freilich nur dann, wenn der einzelne im Westen die Verantwortung, die auf ihm liegt, zur Kenntnis nimmt.

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Trotz der engen Verbindung zwischen Weihnachtsfest und Kind beginnt das Jahr des Kindes im Schatten von Fakten, die wenig weihnachtlich stimmen. Denn auch 1979, im Jahr des Kindes, werden täglich rund 40.000 Kinder verhungern oder an Krankheiten sterben, die sie überstanden hätten, wäre nicht zur Infektion eine Komplikation namens Unterernährung hinzugekommen -Kinder der Dritten Welt.

Auch im Jahr des Kindes werden in der Dritten Welt allein durch den Vi-tamin-A-Mangel täglich rund 270 Kinder auf beiden Augen erblinden. Eine Schätzung, die allerdings kürzlich von indonesischen Experten als viel zu optimistisch in Frage gestellt wurde. Hunderte Sonderschulen müßten für die Kinder gebaut werden, die 1979 ihr Augenlicht verlieren werden, weil es ihrem Körper an Vitamin A mangelt - sie werden aber nicht gebaut, können nicht gebaut werden, wurden schon für die im Vorjahr und vor zwei und drei Jahren erblindeten Kinder nicht gebaut. Aber mit einem verschwindenden Teil des Aufwandes, der dafür nötig wäre, könnte man wenigstens den heute gefährdeten Kindern die schützenden zwei Vitaminkapseln pro Jahr verabreichen.

In Bangladesh zum Beispiel gibt es 350.000 blinde Kinder unter 15 Jahren. 1977 konnten bereits 65 Prozent aller Kinder unter sieben Jahren von der vorbeugenden Vitaminbehandlung erfaßt werden, 12.000 Familienfürsorger beteiligen sich an der Verteilung, die deshalb nicht in den Schulen fortgesetzt werden kann, weil in Bangladesh nur 40 Prozent der Kinder in die Schule gehen und viele von ihnen nach einem Jahr schon wieder ausbleiben.

Grund: Die Unwissenheit (80 Prozent der Bevölkerung sind Analphabeten) und Armut der Eltern. Die Kinder müssen früh mitarbeiten.

Damit ist Bangladesh, eines der überbevölkertsten und notleidendsten Länder der Welt, modellhaft für viele notleidende Völker, unter deren Problemen die Kinder am meisten leiden. Dabei kann aber auch das Gegenteil von Uberbevölkerung zum Problem werden. Viele afrikanische Staaten haben nicht zu viele Menschen, sondern zu wenige - die medizinische Betreuung, die Versorgung mit Schulen leiden unter der dünnen Besiedelung. Die Republik Kongo konnte beispielsweise mit massiver französischer Hilfe ein Schulsystem aufbauen, das 85 Prozent der Kinder perfekte Beherrschung der französischen Sprache in Wort und Schrift vermittelt, aber da auf einem Gebiet von der Größe der Bundesrepublik

Deutschland kaum zwei Millionen Menschen leben, sind Straßen und sonstige Infrastrukturen schwer finanzierbar und in großen Teilen des Landes bekommen die Menschen kaum je Gedrucktes in die Hand. Mit dem Ergebnis, daß die Menschen das Lesen und Schreiben, das sie als Kinder gelernt haben, als Erwachsene bald wieder vergessen.

Die Probleme der Kinder in den Entwicklungsländern sind von denen der Gesellschaft, in der die Kinder aufwachsen, nicht zu trennen. Kinder sind allerdings noch wehrloser als die Erwachsenen. Sie leben, wie Frau Estefania Aldaba-Lim, die Soriderbeauftragte für das Internationale Jahr des Kindes, kürzlich sagte, in einem „nicht erklärten Ausnahmezustand“. Sie haben keine Möglichkeit, Rechte geltend zu machen, ob sie nun in Gefängnissen verschwinden (die internationale Juristenkommission kam zu dem Ergebnis, daß dies in Südafrika tatsächlich der Fall ist!) oder ob sie, statt in die Schule geschickt zu werden und zu spielen, als Arbeitskräfte bis an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit ausgepreßt werden.

Vor wenigen Jahrzehnten war Kinderarbeit in Europa an der Tagesordnung. In den USA schufteten Kinder in Bergwerken und förderten auf den Knien rutschend Kohle, wo Erwachsene nicht hingelangten. In der Dritten Welt gibt es, einer (vorsichtigen) Schätzung der Arbeitsorganisation der UNO zufolge, heute mindestens 52 Millionen Arbeitskräfte unter 15 Jahren im ganztägigen Einsatz, 42 Millionen im Rahmen der Familie, zehn Millionen in Fabriken, Gewerbebetrieben usw.

Einerseits ist der hohe Prozentsatz von Kindern an der Weltbevölkerung, die ihrerseits bald Kinder haben werden, einer der Gründe für die Unmöglichkeit, das Bevölkerungswachstum schon in naher Zukunft in den Griff zu bekommen. Anderseits ist wahrscheinlich die hohe Kindersterblichkeit in vielen Ländern einer der Gründe, viele Kinder zu haben. Eine massive Verbesserung der Überlebenschancen für jedes einzelne Kind, der Chance, gesund zu bleiben und einen Beruf zu ergreifen, ist eine unumgängliche Voraussetzung, wenn man die Menschen der Dritten Welt veranlassen will, weniger Kinder in die Welt zu setzen.

Nach dem Jahr des Kindes werden wir besser wissen, was dabei möglich ist und was nicht. Betlehem ist zu Weihnachten 1978 überall - aber nicht als Heilsbotschaft, sondern als Synonym für den Stall als menschliche Behausung.

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