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In der „frischen" Luft

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Als ich ein Kind war, hieß es, , vom Regen bekäme man eine schöne Haut. Wir sammelten das Regenwasser in Zisternen und wu­schen unser Haar und die Wäsche damit. Wir begossen damit beson­ders empfindliche Zimmerpflanzen. „Regen bringt Segen". Es hat lange gedauert, bis ich mich damit abfin­den konnte, daß es heutzutage bes­ser ist, sich mit dem Regenwasser nicht näher einzulassen.

Es hat mich auch viel Überwin­dung gekostet, an den schönsten Pilzen im Wald vorbeizugehen, weil man davor gewarnt hatte, sie zu essen. Ich habe mich damit abzufinden gelernt, daß die Meere, in denen ich so oft und so gerne ge­schwommen bin, dreckig geworden sind, daß die Flüsse stinken. Daß es auch nicht mehr ratsam ist, ein Stück donauaufwärts zu gehen, gegen Klosterneuburg zu, sich dann flußabwärts treiben zu lassen, die Donau schwimmend zu überque­ren, wie wir das als junge Leute oft und gerne getan haben. Heute würde man dabei zumindest eine Hauter­krankung riskieren. Ich habe ge­lernt, daß Sonnenbäder nicht ge­sund, sondern eher gefährlich sind. Mit all dem habe ich mich abfinden müssen.

Wer will schon an Hautkrebs erkranken oder sich eine schwere Magen-Darm-Erkrankung zuzie­hen oder zusehen, wie die Zimmer­pflanzen eingehen. Wer hat schon Appetit auf ein Pilzgericht, wenn man ihm sagte, daß die Schwam-merln immer noch strahlenbelastet sind. Es hat mich aufgeregt, es hat mich zornig gemacht, es hat mich deprimiert und mit ohnmächtiger Wut erfüllt. Aber was ich über Ozon gelesen und gehört habe, was ich immer noch darüber lese und höre, hat mich verstört und diese Verstö-rung hält immer noch an.

Den Grundstein zu dieser Verstö-rung hat eigentlich, obwohl er nichts Böses im Sinn hatte, mein Großva­ter väterlicherseits gelegt, der Tier­arzt in Mährisch-Trübau gewesen ist. In dieser hübschen Stadt habe ich regelmäßig einen Teil meiner Sommerferien verbracht. Mein Großvater wollte dem Enkelkind, das aus dem zwar fruchtbareren, von zahllosen Obstbäumen aller Gattungen, aber kaum von Wald­bäumen bestandenen Süden des Landes alljährlich angereist kam, ein Maximum an Erholung ange-deihen lassen, und er nahm diese Aufgabe so ernst, wie sie ein pensionierter Veterinärmediziner, der einen guten Teil seines Lebens aus beruflichen Gründen im Freien verbracht hatte, nur nehmen konn­te. Erholung bedeutete für ihn vor allem gesunde Ernährung und Bewegung in frischer Luft.

Daß ich mich auch daheim sehr ausgiebig in frischer Luft bewegte, bedachte er nicht, weil die Luft des südlichen Mährens nicht die Luft von Mährisch-Trübau war. Auch daß sich sowohl seine Vorstellun­gen von Bewegung, die mir zuträg­lich sein mußte, wie auch jene von der gesunden Ernährung einiger­maßen von meinen eigenen Vorstel­lungen unterschied, rührte ihn kei­neswegs, und ich sah schließlich ein, daß es sinnlos war, ihn darüber aufzuklären.

Ich habe in jenen Sommermona­ten große Mengen verschiedener Ge­müse gegessen, die ich nicht moch­te, er achtete streng darauf, daß nichts von dem, was er mir auf den Teller häufte, übrigblieb. Ich habe mich nach dem Aufstehen täglich von Kopf bis Fuß nach seinen An­weisungen mit eiskaltem Wasser gewaschen, obwohl ich das abscheu­lich fand, und ich ging vor allem täglich und bei jedem Wetter mit ihm und mit der Großmama spazie­ren. Es war eine Bewegung, die mir ebenfalls sehr zuwider war, weil ich mich viel lieber ganz anders und vor allem viel schneller bewegt hätte, so, wie es meinem Alter und mei­nem Temperament entsprach.

Hier nun nähern wir uns dem Grund meiner eingangs erwähnten Verstörung, Ozon betreffend, das sich bedauerlicherweise zum Atem­gift gewandelt hat, bereits an.

Wir gingen also spazieren, meine Großeltern und ich, täglich nachdem der Großvater sei­ne Mittagsruhe gehalten hatte, wir gingen die verschiedensten Wege entlang, auf den Kreuzberg hinauf, durch den Heigraben, durch Alleen und Wälder, immer in der gleichen Reihenfolge. Vorne ging mein Groß­vater, seinen Spazierstock schwin­gend, einige Meter hinter ihm folg­ten meine Großmutter und ich. Hin und wieder blieb mein Großvater stehen und deutete mit seinem Spazierstock auf eine Walderdbeere, die rot aus dem Gras einer Böschung leuchtete, dann durfte ich ein paar schnellere Schritte machen, die Erdbeere pflücken und in den Mund stecken. Auch Walderdbeeren, übri­gens mit später nie mehr genosse­nem Aroma und Geschmack, waren ja gesund. War die Erdbeere ge­pflückt und gegessen, fielen wir wieder in unser vorheriges Tempo zurück.

In bestimmten Abständen aber blieb mein Großvater auch dann stehen, wenn er keine Erdbeeren gefunden hatte, ließ uns nahe an sich herankommen und gebot mir mit ernster Stimme, tief zu atmen. Er unterwies mich in dieser Kunst, indem er mir vorführte, wie ich den Rücken durchstrecken, den Kopf halten mußte, wie ich den Brust­korb vorzuwölben, die Arme seit­lich hochzuheben hatte, und er achtete darauf, daß alles genau nach seinen Anweisungen geschah. Ich mußte so lange und so gründlich einatmen, wie ich nur konnte, die Luft dann anhalten, sie schließlich ebenso gründlich wieder aus meinen Lungen herauspressen, bis zum allerletzten Rest, wobei ich zusam­menzuklappen hatte wie ein Ta­schenmesser. So eine Luft habt ihr zu Hause nicht, sagte er dabei, ihr habt keine Nadelwälder. Hier ist die Luft voller Ozon.

Ozon, das fraß sich in mir fest, es wurde für mich zum Zauberwort, zum Synonym für gesunde Luft, die man atmete, um gesund zu bleiben, um gesund zu werden, wenn man es nicht war, gesund zu sein. Ozon und gesunde Luft, das war für mich ein und dasselbe. Ozon war Tannen­wald, Duft nach Nadelgehölzen, nach Kräutern, die bei uns im Sü­den nicht wuchsen. In ozonreicher Luft lebten die Menschen länger, die Kinder wurden seltener krank und hatten rötere Wangen. Ozon war keineswegs giftig, es war der Gesundheit, dem Wohlbefinden zuträglich, es war gut.

Die Verstörung, die mich beim Lesen einschlägiger Zeitungs­artikel trotz aller einleuchtenden und verständlich formulierten Er­klärungen, trotz aller wissenschaft­lich fundierten und selbstverständ­lich zu akzeptierenden Erläuterun­gen befällt, hängt eng mit dieser Kindheitserinnerung, mit der Er­innerung an die Wiesen und Wälder von Mährisch-Trübau und an die Spaziergänge mit meinem Großva­ter zusammen.

Natürlich weiß ich heute, daß jenes Ozon, von dem heute die Rede ist, nichts, aber auch gar nichts mit dem Ozon zu tun hat, das ich in Mährisch-Trübau ein- und wieder ausgeatmet habe, und natürlich weiß ich auch schon, wie es ent­steht. Ich habe es zu akzeptieren, wie die dreckigen Meere und Flüs­se, wie den sauren Regen, der sich von jenem Regen der Kinderjahre so sehr unterscheidet, wie das Gemüse, das heute mit Nitraten übersättigt und daher gar nicht mehr so gesund ist, wie vieles ande­re, mit dem ich mich nicht abfinden will, jedoch abfinden muß.

Aber obwohl ich das alles weiß, wehrt sich in meinem Unterbewußt­sein immer noch etwas gegen dieses Wissen. Die Geschichte mit dein Ozon, das einst so gesund war und heute ein Atemgift ist, hat eine Toleranzgrenze in mir überschrit­ten. Man kann einem Menschen nicht vorschreiben, worüber er ver­stört zu sein hat und worüber nicht

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