6892395-1979_50_03.jpg
Digital In Arbeit

In der Leiter fehlt eine Sprosse

19451960198020002020

Diese Woche tritt der Mini- sterrat der NATO (siehe Stichwort S. 2) zusammen, um über die Modernisierung des nuklearen Mittelstrek- kenpotentials zu beraten

19451960198020002020

Diese Woche tritt der Mini- sterrat der NATO (siehe Stichwort S. 2) zusammen, um über die Modernisierung des nuklearen Mittelstrek- kenpotentials zu beraten

Werbung
Werbung
Werbung

und konkrete Beschlüsse zu fassen. Daß es dabei um mehr als nur um die Herstellung des Gleichgewichtes im Mittelstreckenbereich geht, das durch moderne sowjetische Waffen westlichen Militärkreisen zufolge empfindlich gestört worden ist, soll hier durch eine Analyse der militärischen Kräfteverhältnisse und einen Hintergrundbericht zur politischen Strategie der beiden Blöcke deutlich gemacht werden.

Seit nunmehr schon fünf Jahren geistert sie durch die Diskussionen um die westeuropäische Sicherheit, läßt sie NATO-Militärs nicht mehr ruhig schlafen, ist sie das entscheidende westliche Argument, um der Öffentlichkeit in den einzelnen Mitgliedsstaaten der Allianz die Bedrohung vor Augen zu führen, die vom regionalen Nukleararsenal der Sowjetunion für Westeuropa ausgeht: Sie - das ist die sowjetische Mittelstreckenrakete „SS-20“, die bis zu 5000 Kilometer weit entfernte Ziele ansteuern kann, mit drei Sprengköpfen ausgerüstet ist, von denen jeder eine Sprengkraft von sieben bis acht Hiroshima-Bomben hat.

Dazu kommt: Jeder dieser drei Sprengköpfe der „SS-20“ kann auf ein anderes Ziel programmiert werden - eine Präzisions waffe, die genau trifft, und die heute - so westliche Militärexperten - praktisch schon alle Ziele in Westeuropa abdecken kann. Und was der NATO besondere Sorgen bereitet: Die „SS-20“ ist mobil, also nicht irgendwo in einem fixen Raketenbunker stationiert, deswegen auch fast unverwundbar.

Etwa 100 bis 120 Raketen dieses Typs sollen bereits aufgestellt worden sein, von denen rund zwei Drittel gegen Ziele in Westeuropa, ein knappes Drittel gegen solche in China und ein paar auf den Mittleren Osten gerichtet sind. Pro Jahr werden 30 neue „SS-20“ produziert.

Außerdem ist - wenn in den militärischen Stellen der NATO-Mitgliedsstaaten von der sowjetischen Übermacht im nuklearen Mittelstreckenpotential gesprochen wird - von einem Flugzeug die Rede: genauer gesagt von dem sowjetischen Schwenkflügelbomber „Tupolew 26“ (im NATO-Jargon: „Backfire“),. der in großen Höhen 5700 Kilometer weit fliegen kann und zwei Raketen mit Kernladungen an Bord mitführt.

Die „SS-20“ und der „Backfire“- Bomber - zwei Systeme, die das Gleichgewicht im eurostrategischen Waffenbereich vollends zugunsten der Sowjetunion verschoben haben sollen. Um dieses Gleichgewicht wieder herzustellen, geht es am 12. Dezember, wenn in Brüssel der Ministerrat der nordatlantischen Allianz zusammentrifft - so wird im Westen argumentiert.

Darum auch das Wort von der „Nachrüstung“ - man will in Westeuropa also Raketen „nachlegen“, damit sich das Rüstungspendel im Mittelstreckenbereich wieder einigermaßen in Richtung Gleichgewicht hinbewegt.

Die Situation im Waffenarsenal der ' NATO sieht derzeit so aus, daß die Allianz wohl 7000 Stück Atommunition (1000 Raketenladungen, 3000 Artilleriegranaten und 3000 Flugzeugbomben) besitzt, diese auf Grund der geringen Reichweiten aber der „taktischen“ Kategorie (Kurzstreckenwaffen) zuzuzählen sind. Mit 700 Kilometern am weitesten reicht noch die schon etwas veraltete „Pershing- la“-Rakete.

Zählt man die unabhängigen Kernkampfmittel Großbritanniens und Frankreichs mit den 150 in Großbritannien stationierten amerikanischen schweren Jagdbombern F-lll zusammen, ergibt sich eine Gesamtzahl von 386 westeuropäischen Mittelstreckensystemen.

Bei den Mittelstreckensystemen mit Reichweiten über 1000 Kilometern, also Mittelstreckenbombern, schweren Jagdbombern, Mittel

streckenraketen (MRBM/IRBM) und seegestützten ballistischen Raketen (SLBM) ist die Sowjetunion und der Warschauer Pakt mit 1370 Systemen der NATO also tatsächlich weit überlegen (siehe Schaubild).

Um so verwirrender ist es deswegen, wenn man aus berufenem Mund wie vom Direktor des Londoner Instituts für strategische Studien, Christoph Bertram, hört, es wäre gefährlich, das Modemisierungsprogramm der NATO - also die „Nachrüstung“ - als militärische Antwort auf die „SS-20“ zu präsentieren.

Und tatsächlich: Die „PershingIP-Rakete, von der 108 Systeme in Westeuropa - vor allem in der Bundesrepublik Deutschland - stationiert werden sollen, fliegt mit 800 bis

1000 Kilometern zwar weiter als ihre Vorgängerin „Pershing-la“, aber bei weitem nicht so weit wie die „SS-20“.

Auch die „Cruise Missiles“ (zu Deutsch: „Marschflugkörper“) sind mit 2400 Kilometern Reichweite der „SS-20“ weit unterlegen. Für diese pilotenlosen Tragflügelbomben, die in weniger als 100 Metern mit Unterschallgeschwindigkeit (840 bis 960 km/h) fliegen können, sind 116 Abschußrampen für insgesamt 464 Systeme in Großbritannien, Belgien, Italien, der Bundesrepublik Deutschland und den Niederlanden vorgesehen.

Was - so fragt man sich zwangsläufig - soll dann dieses ganze Gerede in der NATO von wegen „das Gleichgewicht wieder herstellen“ und „der sowjetischen Übermacht im Mittelstreckenbereich wirksam begegnen“?

Der NATO-Nachrüstungsbeschluß ist nur zu verstehen, wenn man ihn vor dem Hintergrund der Bündnisstrategie der „flexiblen Reaktion“ sieht. Danach soll das Risiko eines Angriffs auf den Westen für den potentiellen Gegner unkalkulierbar bleiben, weil er niemals Klarheit darüber hat, wie das westliche Verteidigungsbündnis in einer bestimmten Situation reagieren würde. Dazu aber bedarf es abschreckender Waffen.

Einbezogen ist in diese Strategie eine „Eskalationsleiter“ mit verschiedenen Stufen. Derzeit fehlt in dieser Leiter eine Sprosse, eben die der Mittelstreckensysteme. Und eben die vorgesehenen 486 „Per- shing-II“-Raketen und „Marschflugkörper“ in Westeuropa scheinen den NATO-Planern als neue Sprosse in der Eskalationsleiter zu genügen, zumal etwa die neuen hochmobilen und zielgenauen Marschflugkörper die Sowjetunion bis jetzt vor ungewohnte Abwehrprobleme stellen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung