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In der Musilstadt

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Aus Frankfurt kommend, war . ich in Klagenfurt »aus dem Zug gestiegen und stand nun in der Bahnhofshalle dieser Musilstadt und Bachmannstadt, allerdings Jahre nach dem Tod Robert Musils, der selbstverständlich nicht in Kla- genfurt gestorben ist, und Jahre nach dem Tod IngeborgBachmanns, die selbstverständlich auch nicht in Klagenfurt gestorben ist, als mir neben der Bahnhofshallentrafik ein Ständer mit Ansichtskarten auf- fiel, und da vor allem eine Ansichts- karte vom Geburtshaus Robert Musils. Achtzehnhundertsieben- undsechzig von Christian Place- riano gegenüber dem Hauptbahn- hof im spätklassizistischen Stil erbaut, las ich, ideale Geburtsbe-

dingungen, dachte ich. Zwar in Kla- genfurt auf die Welt gekommen, aber wenigstens gleich neben dem Bahnhof.

Aus der Goethestadt in die Mu- silstadt kommend fällt bereits in der Bahnhofshalle eine einzigarti- ge Schildbürgerei ins Auge, denn mir fiel sofort Musils kleine, groß- artige Schrift „Hier ist es schön" ein, in der er eben solche Ansichts- karten kommentierte, wie ich eine in der Hand hatte, sogar eine ihn selbst und seine Geburt betreffen- de. „Die Ansichtspostkarten sehen in der ganzen Welt einander ähn- lich", schreibt Musil. „Sie sind koloriert; die Bäume und Wiesen giftgrün, der Himmel pfaublau, die Felsen sind grau und rot, die Häu- ser haben ein geradezu schmerzen- des Relief, als könnten sie jeden Augenblick aus der Fassade fah- ren; und so eifrig ist die Farbe, daß sie gewöhnlich noch auf der ande- ren Seite ihrer Kontur als schmaler Streif mitläuft. Wenn die Welt so aussehe, könnte man wirklich nichts Besseres tun, als ihr eine Marke aufzukleben und sie in den nächsten Kasten zu werfen." Schreibt es, und muß sich keine fünfzig Jahre nach seinem Tod gefallen lassen, daß kolorierte Mu- silgeburtshausansichtspostkarten gedruckt werden. Der fotografier- te Rasen auf der Verkehrsinsel vor dem Musilgeburtshaus giftgrün, der Himmel über dem Musilgeburts- haus pfaublaw. Und das Musilge- burtshausrelief schmerzt doppelt: optisch und literaturgeschicht- lich.

Die Londoner „Times" nannte Robert Musil einmal den bedeu- tendsten deutschschreibenden Romancier der ersten Hälfte unse- res Jahrhunderts und zugleich den unbekanntesten Schriftsteller die- ses Zeitalters. Was den Ansichts- kartenfotografen betrifft, stimmt zumindest der zweite Teil dieser Einschätzung, denn der Ansichts- kartenfotograf kann weder Musil, noch die Times gelesen haben. Wäre freilich Musil nicht der bedeutend- ste deutschschreibende Romancier der ersten Hälfte unseres Jahrhun- derts geworden und hätte er nichts oder zumindest nichts Bedeuten- des über Ansichtspostkarten ge- schrieben und veröffentlicht, wäre wohl beim allerbesten Willen nie-

mand auf die Idee gekommen, die- ses architektonisch unscheinbare Geburtshaus auf eine Ansichtskar- te zu bannen. Die Sensationsgeburt selbst bleibt als Innenarchitektur ohnehin der Phantasie des Betrach- ters überlassen. Umso bedeutender der Dichter, desto konkreter die Chance, daß er mit seiner Dichtung genau das Gegenteil dessen erreicht, was seine Dichtung ganz deutlich sagt, in Extremfällen sogar deren Verhöhnung.

Im dreidimensionalen Geburts- haus befindet sich ein Robert- Musil-Museum, da findet der Mu- silfreund bis auf Musil wirklich alles. In einer Vitrine liegt Robert Musils Bleistift und ist mit einem sechsstelligen Betrag versichert. Leider ist die Mine abgebrochen, das ist aber kein Fall für die Versi- cherung, sondern noch Musil höchstpersönlich passiert, und nie- mand war nach seinem Tod so takt-, respekt- und pietätlos, Ro- bert Musils Bleistift neu zu spitzen.

Jeden Sommer finden im Robert - Musil-Museum sogenannte Robert- Musil-Symposien statt. Gescheite Germanisten aus Kalifornien,

Budapest, Tokyo, New York und Klagenfurt besprechen da in ge- genseitiger Hochachtung und Pro- filierungsgier Robert Musils und Hermann Brochs persönliches Ver- hältnis in ihrem Briefwechsel oder Musils Roman als Expedition nach der Wahrheit oder Draußen, Drin- nen und Ich bei Robert Musil oder Essayismus als poetisches Prinzip bei Altenberg und Musil. Am Ende, nach der sogenannten Schlußdis- kussion, schütteln sich sämtliche Wissenschaftler die Hände, fahren wieder heim oder bleiben daheim in Klagenfurt, forschen wieder ein Jahr und besprechen das nächste Mal in gegenseitiger Hochachtung: Essayismus als poetisches Prinzip bei Altenberg und Musil. Aber nicht einer der Germanisten aus Kalifor- nien, Budapest oder New York, keiner der posthumen Generalse- kretäre Musils, nicht einmal der Robert-Musil-Museumswärter hat die Robert-Musil-Geburtshaus- Ansichtspostkarte zweihundert Meter entfernt in der Bahnhofshal- le verhindern können. Wer weiß: Vielleicht hat schon einmal einer der Seminarteilnehmer ausgerech- net damit die lieben Daheimgeblie-

benen in Aachen, Budapest oder Paris gegrüßt. Hier ist es schön, meine Lieben!

Und wie schamlos der Name Musil hier ausgebeutet wird! Im Musilgeburtshaus befindet sich nämlich nicht nur das Robert- Musil-Museum und das Ingeborg- Bachmann-Museum und das Ro- bert-Musil-Archiv, die man durch den Eingang in der Bahnhofsstraße erreicht, sondern auch ein Robert- Musil-Cafe. Kaum aus der Bahn- hofshalle heraußen, bin ich da so- fort hineingegangen, um zu erkun- den, was ein Robert-Musil-Cafe ist und wodurch sich ein Robert-Mu- sil-Cafe von einem herkömmlichen Cafe unterscheidet. Meine Recher- che war binnen zwei Minuten erle- digt. Das Robert-Musil-Cafe un- terscheidet sich von einem her- kömmlichen Cafe, indem es Robert- Musil-Cafe heißt. Außerdem gibt es einen Robert-Musil-Strudel, ein Robert-Musil-Brezel und eine Robert-Musil-Torte. In Wien heißt die Robert-Musil-Torte Sachertor- te: Wien hat eben keine Kultur. Fragt man die Kellnerin, warum das Robert-Musil-Cafe Robert- Musil-Cafe heißt, holt sie den Ge- schäftsführer. Im übrigen dürfen sich die Gäste des Robert-Musil- Cafes dem faszinierenden Gedan- ken hingeben, daß exakt in dem Gebäude, in dem sie jetzt ihre Me- lange schlürfen, Robert Musil die Windeln gewechselt worden sind. Im Bewußtsein, daß Robert Musil im Robert-Musil-Geburtshaus und in der Robert-Musil-Geburtsstadt ausschließlich in seinem ersten Lebensjahr residierte und wohl hauptsächlich horizontal residier- te, darf der zweifellos ebenso faszi- nierende Gedanke folgen, daß das Robert-Musil-Cafe ausgerechnet jenes Cafe ist, in dem Robert Musil keine einzige Melange getrunken und unter Garantie kein einziges Musilwort gedichtet hat. Betrach- tet man die Gestalten im Robert- Musil-Cafe, verliert man aber sehr schnell den Glauben, daß hier tat- sächlich diese Gedanken gedacht werden könnten. Die meisten Gä- ste sind nämlich .offensichtlich damit beschäftigt, ihren aktuellen Bahnhofshallenrausch zu relativie- ren. Falls diese Gäste überhaupt etwas von Musil halten, so halten sie ihn für den Pächter.

Während das Bachmannmu- seum und das Musilarchiv über den Eingang in der Bahnhofs- straße zu erreichen sind, betritt man das Musilcafe durch den Eingang am Walther-von-der-Vogelweide- Platz. Robert Musil ist in Klagen- furt geboren worden, sonst ist er in Klagenfurt nicht viel geworden: Seine feine Charakterisierungsga- be, seine psychologische Meister- schaft und sein, wie ich sagen möchte: radikaler philosophischer Gang waren beim Musilsäugling, also in Musils sozunennender Kla- genf urter Phase, noch nicht ganz so ausgeprägt. Hat also schon der Klagenfurter Musil im Vergleich zur nachträglichen, unerträglichen Musilschminke ziemlich wenig, so hat Walther von der Vogelweide nun wirklich überhaupt nichts mit Klagenfurt zu tun. In diesem Bahn- hof und in dieser Stadt ist Walther von der Vogelweide weder ange- kommen! noch abgefahren, in Kla- genfurt hat Walther von der Vogel- weide aus keinem Zug gewunken, am Klagenfurter Hauptbahnhof hatte Walther nicht eine Minute Aufenthalt. Zu der Zeit, als Wal- ther von der Vogelweide dichtete, war Klagenfurt selbst noch eine Vo- gelweide, aber eine ohne Walther, wohlgemerkt. Das älteste Stadtsie- gel stammtausdem Jahr 1287. Acht Jahre zuvor wurde Klagenfurt urkundlich zum ersten Mal als Stadt bezeichnet. Etwa weitere 40 Jahre früher, um 1240, findet sich das allererste Klagenfurter Lebenszei- chen, als Herzog Bernhard von Spanheim hier einen Handelsplatz gründen ließ. Und etwa weitere zehn Jahre früher starb Walther von der Vogelweide, selbstverständlich ganz woanders.

Ordnerin aller Werte, das seid ihr wahrlich, Frau Mäze: Glücklich, wer in Eure Schule ging! So heißt es in einem der Lieder Walthers. Maßnehmen, maßhalten und Mäßi- gung sind wirklich Tugenden, die man vielen Städten ganz dringend ans Herz legen müßte.

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