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In der Nachfolge Jesu

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Zeitlebens sind die meisten Menschen auf die Orientie-rungshilfen jener Instanzen angewiesen, die den Anspruch der Wirklichkeit auslegen und in denen die Erfahrung bewährter und gelungener Lebensgestaltung aufbewahrt und weiterentfaltet wird. Dies muß noch kein Übel sein, denn die darin zunächst erfahrene Fremdgesetzlichkeit moralischer Inhalte muß noch keine Heteronomie des Gewissens selbst bedeuten. Die Reife des Gewissens erweist sich ja geradezu darin, daß es sich ständig um die menschlich richtigen und in diesem Sinne objektiv richtigen normativen Einsichten müht und an den Normen weiterwächst.

Ethische Normen wollen den Menschen gerade nicht in steter Abhängigkeit halten, sondern haben den Sinn, den Menschen in jene Wahrheit einzuweisen, in der er über sich hinauswachsen und zum autonomen Gewissen finden kann, in dem ersieh mit sich selbst identisch erfährt.

Entscheidende Grundlage auf allen Stadien dieses Weges der Bildung des reifen Gewissens ist die Vermittlung von Vertrauen ... Gewissensbildung läuft vorrangig nicht nur über Normen, sondern vor allem über den Bezug zu konkreten Personen.

Der einzelne Mensch aber kann immer nur perspektivisch das gesuchte Humanum ausschnittweise verwirklichen. Gewissensbildung in Form eines Kopierversuches einer individuellen Vorbildliehen Persönlichkeit würde zum Verfehlen der ureigensten Bestimmung eines Menschen führen und so in Fremdbestimmung und Außenleitung zurückfallen. Nur eine Gestalt, die Menschsein schlechthin zum Ausdruck brächte und in ihrer sittlichen Existenz keine individualisierbare Rolle mehr bloß vorgäbe, könnte Orientierung für Gewissensbildung schlechthin sein.

Als Christen glauben wir, daß dies in der Hingabe des uneingeschränkten Liebesdienstes Jesu Christi Wirklichkeit geworden ist, die durch rein menschliche Mora-lität nicht erreicht werden konnte; daher kann Jesus und sonst niemand Nachfolge verlangen. Das unterscheidend Christliche einer Ethik liegt nicht in dieser oder jener Einzelnorm oder in einem abstrakten Prinzip, sondern in der Gestalt Jesu Christi. Christliche Gewissensbildung geschieht daher am präzisesten in der hörenden und betenden Auseinandersetzung mit der Person Jesu ...

In der Prüfung der Stimmigkeit der eigenen Handlungsmaximen mit dem Lebensplan Jesu, wie er uns in den Evangelien begegnet, liegt das wohl entscheidende Kriterium zur Unterscheidung zwischen der berechtigten Berufung auf ein christlich gebildetes Gewissen von einer mißbräuchlichen Berufung auf ein durch Eigeninteressen oder partikularistische Gruppeninteressen gekennzeichnetes Selbstverständnis.

Einer Gewissensentscheidung, die betend erprobt ist am Evangelium, die durch eine kritische Unterscheidung der Geister gegangen ist und die nicht nur eigene Vorteile bedeutet, dürfen wir trauen. Der Prozeß der reifen Ver-innerlichung Jesu Christi gibt den Menschen frei in seine sittliche Eigenständigkeit und kreative Lebensgestaltung.

Das kirchliche Lehramt hat dem wachsenden Sinn dafür, daß das reife Gewissen schöpferisch und selbständig ist und nicht bloß Ableseorgan für Normen, im Zweiten Vatikanischen Konzil Rechnung getragen. Der Wandel in der Morallehre der Kirche auch in fundamentalen Bereichen ist sehr schön zu sehen beim Vergleich zwischen dem für das Zweite Vatikanische Konzil vorbereiteten Text des Schemas über die moralische Ordnung (de ordine morali) und dem Text, der schließlich in der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute verbindlicher Konzilstext wurde.

In dem von neuscholastischen Theologen vorbereiteten Schema hatte es noch geheißen: „Die christliche Sittenordnung leitet die Gläubigen durch das Gewissen der einzelnen“1, das heißt, das Gewissen ist also bloßes Ableseorgan für kirchliche und sittliche

Normen. Konsequenterweise hieß es in diesem Text dann weiter bezüglich der Berufung auf die Freiheit und Würde des Gewissens: „Ein solches Recht, eine solche Freiheit, eine solche Würde des Gewissens besteht weder in der menschlichen Natur noch im Menschen, insoferne er Person ist.“1

Und zustimmend wird zum Beispiel nochmals die Enzyklika Gregors XVI. zitiert, in der die Lehre von der Gewissensfreiheit — damals aus den Zeitumständen vielleicht noch verständlich — als „deliramentum“, als Wahnsinn bezeichnet wird.

In der Nummer 16 der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute steht dann der Text, an dem bis zum letzten Augenblick noch gearbeitet und geändert wurde: „Das Gewissen ist die verborgenste Mitte.. .“2

Er stellt einen Kompromißtext dar, der aber immerhin Sinn zeigt für die wirkliche Problematik und der einer christlichen Ethik und Moralpädagogik die Richtung weisen kann.

1 Zitiert nach Karl Golser: Gewissen und objektive Sittenordnung. Aus: Zum Begriff des Gewissens in der neueren Moraltheolofie. Wiener Beiträge zur Theologie, Band 48 1975).

' Siehe in diesem Dossier Kasten auf Seite 13.

Gekürzt und ins Deutsche übertragen aus: CONSCIENCE: An Interdisciplinary View, ed. by G. Zecha and P. Weingartner. Dord-recht, Boston, Lancaster, Tokyo 1987.

Der Autor ist Ordinarius für Moraltheologie an der Universität Wien.

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