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In der Nußschale übern Wildbach?

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Europa verändert sich. Und wir werden mitverändert. Die „armen Verwandten“ aus Osteuropa wollen auch zur westeuropäischen Party kommen dürfen. Sollen sie denn dürfen?

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Europa verändert sich. Und wir werden mitverändert. Die „armen Verwandten“ aus Osteuropa wollen auch zur westeuropäischen Party kommen dürfen. Sollen sie denn dürfen?

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Abgesehen davon, daß die Flüchtlings-Definition der Genfer Konvention nach dem Vorbild der Definitionen der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) und des lateinamerikanischen Cartagena-Abkommens auf Flüchtlinge aus bürgerkriegsgeplagten Ländern wie aus ökologischen Katastrophen ausgedehnt werden muß, um humanitär zu sein: der Innenminister und sein fremdenpolizeilicher Apparat sind überfordert, wenn man ihnen weiterhin die Bewältigung der ost-westlichen Wanderbewegungen zuschiebt. Die berühmte Milliarde für die Bundesbetreuung der Asylwerber hilft -ebenfalls ressortsprengend - am ehesten schwächeren Fremdenverkehrsbetrieben und -regionen, schafft aber genau dort neue Probleme.

Die staatliche Vollpension bei gleichzeitigem Verbot legaler Erwerbstätigkeit schürt die Ausländerabneigung in den Dörfern künstlich und verhindert obendrein eine vernünftige Integration der „Bundesbetreuten“ . Das Dasein in Österreich beginnt mit Totalversorgung, die aber wiederum abrupt und ohne Perspektiven eingestellt wird. Ein psychologisch und humanitär verhängnisvolles System.

Ein weiterer Systemmangel verschärft das Problem. Das Asylverfahren liegt in der Kompetenz der Bundesbehörde. Die Konsequenzen der Asylab- und zuerkennungen haben aber die Länder und Gemeinden auf den Ebenen der Arbeitsmarktverwaltung und der Sozialhilfe zu tragen. Im Interesse einer zielführenden Integrationspolitik wird eine frühzeitigere Einbindung der Länder und vielleicht auch eine neue Kompetenzenverteilung zu diskutieren sein.

Hinter all dem steht aber längst eine Realität, die von der meinungs-umfragenden Politik instinktiv erkannt und dementsprechend vorsichtig umschlichen wird. Die Veränderungen in Osteuropa finden nicht nur im Fernsehen nach dem Abendessen statt. Wir werden bereits mitverändert. Die neue Unsicherheit treibt die Menschen um. Und so manche davon auch zu uns. Die armen Verwandten aus Osteuropa wollen auch zur westeuropäischen Party kommen dürfen. Sollen sie dürfen?

Zur Zeit klammert man sich hierorts an den illusionären Strohhalm, daß sich mit der „raschen und entschlossenen Hilfe“ aus Westeuropa und den USA da drüben bald alles zum Besseren wenden würde, und die Osteuropäer dann auch recht bald lieber zu Hause bleiben würden. Werden sie aber nicht so bald. Man übersieht da zumeist mehrere Tatsachen:

• Der Wunsch nach Veränderung ist die eine, das Vertrauen in die Veränderungspolitik eine andere und die Hinnahme von - noch mehr - Einschränkungen im Namen der Reformen noch einmal eine andere Sache.

• Der einzelne Bürger hat nicht den langen Atem der Geschichtsschreibung. Er kalkuliert nicht in Epochen, sondern innerhalb seiner eigenen Lebensspanne und der seiner Kinder, für die zehn, zwanzig Jahre schon einen schönen Teil des Lebens ausmachen.

• Wer weiß inmitten derartiger Umstürze schließlich, ob er am Ende zu den Gewinnern oder zu den Verlierern der Entwicklungen zählen wird? Die derzeit triumphierende Marktwirtschaft garantiert letztlich gar nichts - weder hier noch dort.

• Gerade einschneidende Reformen und rasche wirtschaftliche Liberalisierungen werden sehr bald zu starken sozialen Spannungen und Spaltungen führen. Neuer Konfliktstoff zwischen Völkern und Schichten wird entstehen. • Noch geraume Zeit wird die Sogwirkung des goldglitzernden Westens wirksam sein. Vom Helsinki-Pathos über die medialen Schaufenster bis zu protzigen Urlaubern reichte das Repertoire der Eigenwerbung, deren verzögerte Wirkung uns jetzt unangenehm ist.

Wir können jedem Ost- und Südosteuropäer dankbar sein, der sich für das Daheimbleiben entscheidet. Aber defensiv-restriktives Reagieren auf die Vorgänge ist nicht nur humanitär fragwürdig, sondern auch höchst unrealistisch. Bloße Restriktionen auf dem Arbeitsmarkt und im Gewerberecht schaffen nur zunehmend Armut, die sich trotzdem bei uns abspielen wird. Es sei denn, wir werden in trauriger Nachahmung der spätstalinisti-schen Helsinki-Lügner den Vorhang unsererseits herunterlassen.

Ein zukunftsorientiertes und realistisches Agieren wird auf den volkswirtschaftlichen Analphabetismus einer ewigen Aufrechnung von Zuwanderer- gegen Arbeitslosenzahlen verzichten und die ganze Rechnung auf den Tisch legen: integrierte Zuwanderer sind Mitträger, nicht Almosenempfänger.

Auch schon ohne die osteuropäischen Zuwanderer hätte etwas auf dem Wohnungssektor geschehen müssen, wenn nicht die schwächsten Wohnungsmarktteilnehmer zunehmend unter die Räder kommen sollten. Bloß zuzuschauen, wie diese sich mit den Zuwanderern um die wenigen erschwinglichen Wohnungen keilen, verdient nicht den Namen Politik. Sowohl der soziale Wohnbau als auch die gemeinnützigen Wohnbau- und Siedlungsgenossenschaften stehen vor neuen Herausforderungen,

Das alles muß von einer positiven

„Begleitmusik“ unterstützt sein, zu der viele beitragen können. Die Politiker mit einer mutigen und ehrlichen Sprache und einer gut konzertierten Arbeit für sinnvolle Rahmenbedingungen. Die Kirchen mit der sozialen Integrationskraft ihrer Gemeinden und ihrer moralischen Autorität. Das Schulwesen etwa auch, mit Initiativen für einen übernationalen und interkulturellen Brückenschlag zwischen den jungen Generationen. Die Medien mit der Ergänzung ihrer aktuali-tätsbezogenen Berichterstattung durch eine solche über alltägliches osteuropäisches Leben.

Alles in allem sprechen wir bei Europa in all seiner stürmischen Umgestaltung vom insgesamt reichsten Fünftel der Weltbevölkerung. Und unser Flüchtlings- und Zuwandererproblem ist ein Bruchteil dessen, womit katastrophal arme Zuzugsländer anderer Kontinente konfrontiert sind.

Wir können also getrost die großen Worte durch erste Taten ersetzen. Von der „Butterseite“ der Nachkriegsgeschichte wie auch des Globus aus.

Der Autor ist Caritas-Direktor in Wien.

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