7080538-1993_34_06.jpg
Digital In Arbeit

„In diesem Irrenhaus zählte nichts”

19451960198020002020

„Verteidigungsminister Dzur hat mich soeben davon informiert, daß Truppen des Warschauer Paktes unsere Grenzen überschritten haben.” Es war kurz vor Mitternacht am 20. August 1968, als Ministerpräsident Oldfich Cernik das Politbüro der KPC über die beginnende Invasion informierte. Um 4.30 Uhr berichtete Radio Prag erstmals den Tschechen und Slowaken von der „brüderlichen Hilfe”, die da gerade heranrollte.

19451960198020002020

„Verteidigungsminister Dzur hat mich soeben davon informiert, daß Truppen des Warschauer Paktes unsere Grenzen überschritten haben.” Es war kurz vor Mitternacht am 20. August 1968, als Ministerpräsident Oldfich Cernik das Politbüro der KPC über die beginnende Invasion informierte. Um 4.30 Uhr berichtete Radio Prag erstmals den Tschechen und Slowaken von der „brüderlichen Hilfe”, die da gerade heranrollte.

Werbung
Werbung
Werbung

Was personell mit einem Schlag um den anderen begann - am 5. Jänner war Alexander Dubcek Parteichef geworden, am 22. März trat Antonin Novotny als Staatspräsident zurück, am 30. März wurde in geheimer Wahl der Kriegsheld Ludvik Svoboda zum Präsidenten gewählt, am 6. April demissionierte die Regierung Jozef Lenart, am 9. April vereidigte Svoboda den neuen Premier Oldfich Cernik - wurde mit einem gezielten Schlag vernichtet. 21 Jahre mußten Tschechen und Slowaken noch auf die Freiheit warten. Sie wurde erst möglich, als sich der Kommunismus, der nur mit Brachialgewalt bestehen konnte, selbst aufgab.

Was verloren die Tschechen und Slowaken in dieser Nacht vom 20. auf den 21. August 1968? Präsident Svoboda (sein Name bedeutet „Freiheit” und war nach der Invasion auf vielen Plätzen und an Gebäuden in der gesamten Republik zu lesen) hatte gleich nach der Amtsübernahme eine Teilamnestie für politische Gefangene verkündet, desgleichen die Einstellung von Strafverfolgungen für Emigranten und „Republikflüchtlinge”. In den zwanzig Jahren seit der kommunistischen Machtübernahme im Februar 1948 hatte es an die 130.000 politische Gefangene gegeben. Obwohl das Sowjetsystem unter Chruschtschow mit den stalinistischen Praktiken abgeschlossen, aber nicht abgerechnet hatte, signalisierte der Abschied von den menschenverachtenden Maßnahmen der alten Riege durch die Prager Reformer den Kremlherren einen Aufbruch in eine bisher nicht gekannte und gewollte Freiheit. Polen, Ungarn, Bulgarien und die DDR reagierten übernervös auf die Vorgänge im Bruderland.

„Ausländische Agitation”

Am 8. Mai konferierten die Parteichefs der fünf Länder in Moskau über die Lage in der Tschechoslowakei. Dubcek war am 5. Mai wegen der Gewährung eines Kredites in Moskau. Am 17. Mai besuchte der sowjetische Ministerpräsident Alexej Kossygin Prag, reiste dann zur „Kur” nach Karlsbad, die er aber plötzlich wieder abbrach. Hektik war auch bei den sowjetischen Militärs ausgebrochen: der sowjetische Verteidigungsminister Andrej Gretschko wollte über Verhandlungen mit Prag eine Stationierung von Warschauer Pakt-Truppen in der Tschechoslowakei erreichen. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es keine Sowjetgarnisonen im Land.

Von 20. Juni bis 1. Juli gab es Stabsmanöver des Warschauer Paktes auf tschechoslowakischem Territorium, bis Anfang August waren die Manöversoldaten noch nicht abgezogen. Die Prager Reformer sollten mit diesem Säbelrasseln zur rechtzeitigen Umkehr veranlaßt werden. Provokationen, wie beispielsweise von Sowjetagenten angelegte „Waffenlager” mit amerikanischen Kriegsmaterialien aus dem Zweiten Weltkrieg, trugen zur Verunsicherung bei und gaben den Vorwand für offizielle Warnungen seitens des großen Bruders, gegen ausländische Agitation, die angeblich das Ziel einer Konterrevolution verfolge, energischer vorzugehen.

Politische Romantik

Das am 28. Juni erschienene „Manifest der 2.000 Worte” des Schriftstellers Ludvik Vaculik enthielt eine scharfe Kritik am alten Funktionärskorps und verlangte eine raschere Liberalisierung im Lande. Von der Regierung und der Nationalversammlung wurden die „politisch unverantwortlichen Appelle” des Manifestes zwar abgelehnt, aber rund 40.000 Menschen votierten mit ihren Unterschriften für die in diesem Dokument genannten politischen Ziele. Der äußerst populäre Parlamentspräsident Josef Smrkovsky bescheinigte den Unterzeichnern ehrenhafte Absichten, kritisierte aber deren „politische Romantik”. Die im Zentrum der Macht Agierenden wußten sehr wohl um die Enge des reformatorischen Spielraums. Mußten sie doch ständig nach Moskau blicken und besonders vorsichtig agieren.

Immer deutlicher wurden Forderungen, die weit über die Schaffung eines Kommunismus mit menschlichem Antlitz hinausgingen. General Vaclav Prchlik, der Leiter der ZK-Abteilung für Militär- und Sicherheitsfragen, verlangte beispielsweise eine Revision des Warschauer Paktes mit der Möglichkleit, daß auch andere Mitgliedstaaten außer der Sowjetunion den Oberkommandierenden stellen könnten. Der neugegründete „Klub engagierter Parteiloser” wandte sich gegen die Vorherrschaft der Kommunistischen Partei, Sozialdemokraten kamen aus ihren Löchern und dachten laut über eine Koalition mit den Kommunisten nach. Esjring mittlerweile um den Primat der KPC.

Erneut trafen sich die Spitzenfunktionäre der Sowjetunion, Polens, Ungarns, Bulgariens und der DDR - diesmal in Warschau. Nur Rumänien betrieb eine eigenständige Politik.

In Warschau entwarfen die KP-Chefs einen Brief an ihre „teuren Genossen” in Prag, in dem vor der „drohenden Lostrennung der CSSR von der sozialistischen Gemeinschaft” gewarnt wurde, was selbstredend die Lebensinteressen aller übrigen sozialistischen Länder gefährde. Es war ausgesprochen worden: Kein sozialistisches Land konnte sich verselbständigen, die Interessen der Gemeinschaft standen über Partikularinteressen einzelner Staaten - das führte unmittelbar zur sogenannten „Breschnew-Doktrin” von der begrenzten Souveränität sozialistischer Länder.

Ab Ende Juli verdichteten sich die dramatischen Ereignisse. Von 29. Juli bis 1. August tagten die Führungsspitzen aus Prag und Moskau in CiernanadTisou. „Die Konferenz begann am Montag, dem 29. Juli, und geriet bald in eine Sackgasse”, erinnert sich Dubcek in seinen Memoiren. „Die beiden Parteien waren sich so uneinig wie zuvor. Breschnew und ich wiederholten lediglich, was wir bereits gesagt hatten. Auch andere Mitglieder der Delegationen wurden um Wortmeldungen gebeten, und einige wenige aus unserer Gruppe etwa Bilak, Svetska und Rigo, ließen zaghaft prosowjetische Meinungen verlauten. Sie waren damit jedoch in der Minderheit und änderten wenig am

Gesamtbild.”

Breschnew lag eine Par-teiführertagung der CSSR, Bulgariens, Ungarns, der DDR, Polens und der Sowjetunion am Herzen. Diese wurde auch in Cierna vereinbart: für den 3. August in der slowakischen Hauptstadt Preßburg. Und in Preßburg schien sich eine Entspannung anzubahnen. Im Schlußkommunique wurde denn auch das „Recht auf den eigenen Weg” beim Aufbau des Sozialismus betont und eine baldige Wirtschaftskonferenz auf höchster Ebene angekündigt. Dubcek war zufrieden, das Dokument hatte einen ganz anderen Ton als der warnende Brief aus Warschau. Am 7. August erklärte der ungarische Parteichef Jänos Kädär, daß die Konferenz in Preßburg einen Wendepunkt im Streit um die tschechoslowakischen Reformen darstelle und „bei den Aktivitäten kommunistischer Bruderparteien jetzt politische Mittel den Vorrang haben”.

Doch es wurden alle getäuscht, die Sowjets hatten etwas ganz anderes geplant. Dubcek nennt das in seinen Memoiren ein „bewußt eingesetztes Verwirrspiel”. Erst nach der Wende von 1989 wurde bekannt, daß bei einem Treffen der „Fünf' (Ungarn, Bulgarien, DDR, Polen und Sowjetunion) am 18. August in Moskau die engültige Enscheidung zur Invasion der Tschechoslowakei beschlossen wurde.

Aktion gegen „Reaktionäre”

Dub&k gibt die stenographische Mitschrift dieser Konferenz folgendermaßen wieder: „Danach erklärte Breschnew, in Cierna sei .vereinbart worden', daß die Tschechoslowakische Kommunistische Partei die Zensur wiedereinführen und den Club der Engagierten Parteilosen (KAN) sowie die K-231, die Organisation ehemaliger politischer Gefangener verbieten würde. Weiter sei .vereinbart worden', daß wir die Präsidiumsmitglieder Frantisek Kriegel, den Sekretär des Zentralkomitees Cestmir Cisqf und Jifi Pelikan, den Generalintendanten des Tschechoslowakischen Fernsehens, degradieren würden. Er fügte hinzu, diese .Vereinbarung' sei die Grundlage der Konferenz in Bratislava gewesen. Das war natürlich eine unverschämte Lüge. Die Sowjets hatten diese Forderungen gestellt, wir hatten sie jedoch alle entschieden zurückgewiesen. Wir hatten uns damals nur darauf geeinigt, daß wir uns in Bratislava treffen würden. Auf sonst nichts.”

Nach der Konferenz von Preßburg startete die Moskauer „Prawda” eine Kampagne gegen die „reaktionären Elemente” in der Tschechoslowakei. Auftakt zum Ende. Am 20. August brachen Breschnew, Kossygin und Podgorny überstürzt ihren Urlaub ab und eilten in den Kreml zu einer ZK-

Sondersitzung. In der folgenden Nacht marschierten die Warschauer-Pakttruppen gegen einen Bruderstaat. Innerhalb von zweieinhalb Stunden hatten die Truppen die Nervenzentren der 127.870 Quadratkilometer großen Tschechoslowakei lahmgelegt. Die ganze Welt hielt den Atem an und konnte nur bewundernd mit vorsichtig protestierendem Unterton den passiven Widerstand der Tschechen und Slowaken zur Kenntnis nehmen.

Um 5.10 Uhr des 21. August 1968 veröffentlichte die sowjetische Nachrichtenagentur TASS die Begründung für die Invasion: „Mitglieder von Parteiführung und Regierung der Tschechoslowakei haben die Sowjetunion und andere verbündete Staaten aufgefordert, dem brüderlichen tschechoslowakischen Volk Hilfe zu leisten, einschließlich der Hilfe mit bewaffneten Streitkräften... Die Gefahr für die sozialistische Ordnung in der Tschechoslowakei ist gleichzeitig auch eine Gefahr für die Grundfesten des europäischen Friedens.”

Diktat aus Moskau

Um 1.30 Uhr des 21. August protestierte nach der Information von Premier Cernik über die begonnene Invasion das nach Rücksprache mit Präsident S voboda rasch einberufene Präsidium der KPÖ in einer Erklärung gegen die Aggression: „Das Präsidium des ZK der KPC erachtet diesen Akt als widersprechend nicht nur den Grundprinzipien der Beziehungen zwischen sozialistischen Staaten, sondern als eine Bestreitung der Grundnormen des internationalen Rechts.” Dubcek, Smrkovsky, Krie-gel, Spaöek, Cernik, Piller und Barbirek votierten für die Erklärung, Vasil Bilak, Kolder, Svetska und Rigo waren dagegen. Die meisten Sekretäre und Kandidaten des ZK unterstützten sie ebenfalls, nur Jakeä, Kapek und Indra lehnten sie ab. Damit ist auch jener Personenkreis umschrieben, der die Bruderstaaten zur Intervention eingeladen hatte, die dann - unter Führung Gustav Husaks - die „Normalisierung” ab 1970 durchzuführen bereit waren - ausgehend von jenem „Moskauer Protokoll”, das der am 23. August 1968 mit seiner Führungsriege nach Moskau entführte Alexander Dubcek unterzeichnen mußte. Dubcek in seinen Memoiren über die Moskauer „Verhandlungen”: „Ich begriff, daß in diesem Irrenhaus nichts zählte - weder die Ideale, die mir und, wie ich geglaubt hatte, auch ihnen teuer waren, noch die Verträge, die wir abgeschlossen hatten, noch die internationalen Organisationen, denen sie und wir angehörten.” Bloß FrantiSek Kriegel, von den Sowjets als „schmutziger Jude aus Galizien” beschimpft, hielt dem ungeheuren psychischen und physischen Druck stand und unterzeichnete nicht das Moskauer Dokument.

Ludek Pachmann, Schachgroßmeister, während des Prager Frühlings Unterzeichner des „Manifestes des 2.000 Worte” hat zehn Jahre nach der achtundsechziger Invasion die Frage gestellt, was gewesen wäre, wenn. „Niemand kann eine Antwort auf diese Frage geben”, hatte er damals gemeint. „Dagegen wissen wir genau, was in einer längeren Perspektive das gewaltsame Ende des Prager Frühlings bedeutete: Nicht nur Zehntausende politischer Gefangener, Hunderttausende sozial vernichteter Existenzen und eine moralische und kulturelle Destruktion ohnegleichen, sondern auch eine schwere Niederlage des totalitären Systems und seine reaktionären Ideologie.” (Siehe Zeitgeschichte in FURCHE 32, Seite 6)

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung