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In einer sehr stillen Nacht

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Wir reden heute über Weihnachten, sagte der Lehrer, und ihr sollt mir davon erzählen. Laßt hören! Was geschieht denn eigentlich, wenn das Christkind kommt?

Dann gibt es einen Christbaum und viele Geschenke, sagte der kleine Junge in der ersten Bank.

Wir gehen auf den Friedhof, meldete sich das kleine Mädchen neben ihm, und bringen der Großmutter vor der Bescherung ein Bäumchen und stellen es vor ihren Grabstein, und-es ist recht schön, wenn sich die Lichter im glatten Marmor spiegeln.

Das ist auch schön, sagte ein größeres Mädchen, aber ich weiß noch etwas Schöneres. In der Vorweihnachtszeit gehen wir manchmal zur Rorate. Das ist die frühe Messe, da ist es noch dunkel, auf der Straße ist es ganz still, nur die Glocke läutet vom Turm, kurz und irgendwie leiser als sonst.

Bei uns ist das anders, fiel ihr eine Kameradin ins Wort, wir ha-

ben keine Zeit, in die Rorate zu gehen, wir tun dafür Gutes. Wir sammeln für die Dritte Welt, und Mutter schneidert Kittel für die Sahelbewohner.

Bravo, sagt der Lehrer, das ist ausgezeichnet.

Er kehrte zu seinem Pult zurück und wollte über die Notwendigkeit sprechen, äaß Reiche an Arme spenden sollen. Da hörte er ein scharfes zischendes Flüstern hinter sich, ein viertes Mädchen:

Das ist doch Quatsch, das Sel- ber-Schneidern. Meine Eltern hätten dazu keine Zeit. Die kommen am 24. immer erst gegen Abend aus dem Geschäft und sind dann regelmäßig fertig gemacht durch den Betrieb. Mama ist so hin, daß sie heult, und Vater schimpft und haut auf den Tisch. Aber dann sind sie doch soweit, daß sie uns alle ins Auto packen, und wir fahren irgendwo hin ins Gebirge, in ein Hotel. Wenn wir dort ankommen, ist die Weihnachtsfeier meist schon aus, die Eltern trinken noch was, wir kippen ins Bett, und am anderen Tag kommt keins von uns vor zwölf aus der Klappe.

Und Geschenke bekommt ihr’ keine? fragte eine Stimme von hinten.

Geschenke? Ach doch! Wenn Inventur gemacht wird zwischen Neujahr und Dreikönig, da können wir uns dann aussuchen, was wir wollen.

Das möcht ich nicht, erwidert ein Kleiner. Ich will schon alles am Heiligen Abend haben. Ich habs gut, ich hab immer zwei, drei Bescherungen.

Wieso denn das?

Weil meine Eltern geschieden sind. So geh ich zuerst zu Papi und krieg dort, was ich mir gewünscht hab. Dann bin ich bei den Großeltern, und zum Schluß bei Mami, da ist dann der Weihnachtsbaum und die Krippe, und da krieg ich noch einmal so viel, weil sie nicht weniger geben will als Papi.

Du hast es gut, murmelt ein Banknachbar, bei uns ist Weihnachten immer ganz scheußlich, seit mein Bruder auf dem Moped verunglückt ist. Mutter weint nur und Vater geht ins Wirtshaus und, wenn er heimkommt, geht das Streiten los. Ich habe nur den Fernseher am Heiligen Abend, der ist mein Glück.

Der Lehrer denkt: Armer Kerl. Und denkt: Jetzt wird es gefährlich. Und denkt: Wie biege ich das Gespräch noch zurecht? So ist er beinahe erleichtert, daß sich aus dem Hintergrund die junge Kollegin meldet, sie sitzt als Hospitantin in seinen, des alten und erfahrenen Lehrers Schulstunden, um zu hören und um zu lernen.

Ich habe einen Nachbarn, läßt sie sich vernehmen, der ist Schaffner bei der Eisenbahn, ein älterer Mann. Der läßt sich am 24. Dezember nie freigeben. Wenn alle heimgehen wollen, er will nicht heimgehen. Die Züge müssen ja fahren wie immer, auch in dieser

Nacht. Er hat mir einmal davon erzählt, wie das ist. Am Nachmittag ist noch alles unterwegs mit Sack und Pack. Um sechs wird es schon stiller, um acht ist keiner mehr da. Wenn der Zug hält, steigt keiner mehr ein. Und wenn noch einer einsteigt, dann hat er meist einen besonderen Grund: entweder er hat gerade eine dringende Nachricht erhalten, es liegt jemand im Sterben, oder es ist sonst etwas Unerwartetes passiert. Zu ihm setzt sich dann mein Nachbar und redet mit ihm, und da hört er manchmal ganz merkwürdige Geschichten.

Erzählen! erzählen! rufen einige Stimmen.

Eine hab ich mir auch gemerkt, fährt die junge künftige Lehrerin fort, und nach einigem Besinnen fängt sie an:

Es war also an einem Heiligen Abend und mein Nachbar fuhr als Schaffner mit einem Schnellzug nach Wien und von Wien wieder zurück nach Salzburg. Erst war es wie immer: viele Leute, und es gab viel zu tun. Er zwickte Karten und gab Auskunft — da fiel ihm ein Mädchen auf, es konnte auch eine junge Frau sein, sie war aufgeregt und wollte immer wissen, wann der Zug in Wien ankäme und ob er wohl keine Verspätung haben werde; sie war blaß und zitterte und konnte es offenbar gar nicht mehr erwarten, endlich anzukommen.

Wir waren schon knapp vor dem Ziel, da kam sie aus dem Abteil und lief dem Schaffner nach und fragte, ob er wisse, wo in Wien das Untersuchungsgefängnis sei. Und wie man am schnellsten hinkäme.

Ach so, dachte der Schaffner, das also ist dein Ziel.

Und dort wollen Sie jemanden besuchen? fragte er.

Das Mädchen nickte mit zusammengepreßten Lippen. Sie sah aus, als würde sie sich diese Fahrt in schrecklicher Herzensnot selbst abgerungen haben.

Der Schaffner gab ihr Auskunft, so gut er es selbst wußte, aber er riet ihr, in Wien noch einmal zu fragen. Am Westbahnhof fiel ihm noch auf, daß das Mäd chen als erste aus dem noch fahrenden Zug sprang und dann in Richtung Ausgang hetzte, richtig hetzte, so sagte er.

Und dann?

Dann dachte er nicht mehr daran und versah seinen Dienst, und gegen Mitternacht übernahm er den Zug nach Salzburg zurück. Der war nun ganz leer. Der Schaffner ging einsam von Waggon zu Waggon. Er hatte das Gefühl, in einem Gespensterzug zu sein, auf sinnloser Reise. Sinnlos die Eile, sinnlos das Lärmen der Räder, sinnlos die Lichter, die niemandem leuchteten, sinnlos die Heizung, die niemanden wärmte. Da kam er an ein Abteil, da wars dunkel, und als er das Licht anknipste, saß eine Frauensperson da, das Gesicht im Mantel versteckt, und als er die Fahrkarte verlangte, war es das Mädchen vom Nachmittag.

Er sagte: Da sind Sie ja wieder!

Und da sah er, daß sie ganz verweint war und daß ihr auch jetzt die Tränen über die Wangen liefen. Er setzte sich zu ihr, jetzt weinte sie noch mehr, und eine Weile konnte sie auf seine Fragen überhaupt keine Antwort geben. Aber schließlich erzählte sie ihm doch.

Sie hatte einen Verlobten, der war wegen einer schlimmen Sache in Verdacht geraten, man hatte ihn Anfang Dezember in Untersuchungshaft genommen. Sie glaubte nicht, daß er schuldig sei, aber ihre Eltern glaubten es und ließen es sich nicht ausreden und wollten sie von ihm trennen.

So hatten sie ihr alle Nachrichten verheimlicht, die in der letzten Zeit von ihm an sie gekommen waren.

Erst am Morgen des 24. Dezember hatte sie die abgefangenen Briefe in einer Schublade ihrer Mutter gefunden.

Es hatte eine schreckliche Szene gegeben, und das Mädchen war zur Bahn gestürzt und hatte den nächsten Zug genommen, um nach Wien zu fahren und, wenn nur immer möglich, noch an diesem selben Abend zu ihrem Geliebten vorzudringen.

Als sie ankam, war es schon spät. An der Wache hatte man sie sehr ungnädig empfangen und sie angeschnauzt, sie solle sich gefälligst eine andere Besuchszeit aussuchen und solle nach den Feiertagen wiederkommen.

So sei sie vor der Tür gestanden, und nachdem sie den Gefängnisblock wohl zehnmal umkreist und zu allen Gitterfenstern hinaufgeschaut und hinaufgewinkt hatte, sei sie schließlich — vor Kälte halb erstarrt und voll von Kummer und Schwäche — auf den Bahnhof zurückgekehrt. Nun fahre sie wieder nach Salzburg, doch nicht nach Hause, zu ihren Eltern wolle sie keinesfalls, aber einer Freundin habe sie sich angekündigt, dort hoffe sie Unterschlupf zu finden für die nächsten Tage, und von dort werde sie wieder nach Wien aufbrechen und alles unternehmen, um ihrem Freund zu helfen.

Der Schaffner hörte sich das alles an und versuchte, das Mädchen zu trösten, sofern da zu trösten war, und das Mädchen begann immer wieder zu weinen. So verging die Fahrt.

Als Maria Plain auftauchte, grünlich bestrahlt über schwarzem zottigen Wald, machte sich das Mädchen zum Aussteigen fertig. Der Schaffner wünschte ihr noch einmal alles Gute:

Vielleicht kommt Ihr Freund doch noch frei. Wenn er es nicht getan hat, wird es sich schon her- ausstellen.

Als der Zug hielt, stieg das Mädchen aus und ging auf die Treppe zu, die zum Ausgang führt. Auch hier waren die Bahnsteige leer, nur ein paar Gepäckwagen standen herum und einige verwaiste Kofferkulis — ja, und ganz vorn an der Lokomotive standen einige Leute, aufgereiht nebeneinander, so als warteten sie auf jemanden. Es waren zwei Männer und zwei Frauen. Das Mädchen trippelte auf sie zu, vornübergebeugt und zusammengekrümmt im fegenden Wind. Da aber, plötzlich, stockte sie und stand. Dann stieß sie einen Schrei aus und stürzte vorwärts. Sie stürzte auf einen der Männer zu, auf den jüngeren der beiden, und auch er lief auf sie zu. So fielen sie einander in die Arme.

Der Schaffner hörte das Mädchen noch laut und gellend weinen. Aber die anderen lachten schon und umringten das Paar und klopften ihm auf Rücken und Schultern. Was sie redeten, war nicht zu verstehen, sie redeten durcheinander und überschrien einander vor Freude, und schließlich zogen sie alle fünf, ohne sich noch einmal umzusehen, die Treppe hinab.

Der Schaffner sah ihnen nach, wiegte den Kopf und pfiff leise vor sich hin. Da war wohl etwas Gutes geschehen, er meinte verstanden zu haben, was geschehen war. Er reimte es sich zusammen: Der junge Mann war, als schuldlos erkannt, aus dem Gefängnis entlassen worden. Er war zu seiner Verlobten nach Salzburg gefahren und hatte sie bei ihren Eltern gesucht. Und schließlich waren sie, von der Freundin benachrichtigt, alle vier zum Bahnhof gegangen, um die nach Mitternacht Heimkehrende abzuholen und mit ihr Rettung und Versöhnung und vielleicht doch noch einen späten Christabend zu feiern.

Das dachte er sich iaus, mein Nachbar, der Schaffner, und so kann es ja schließlich auch gewesen sein.

Die junge Kollegin schwieg und sah sich nun etwas beunruhigt in der Klasse um. Sie merkte jetzt, daß sie lange gesprochen und noch dazu ein Thema berührt hatte, das vielleicht gar nicht in die Schule paßte. Das beunruhigte die junge Lehrerin, und sie suchte mit einem Scherz abzuschließen.

Da ergriff der ältere Lehrer das Wort und sagte:

Danke für diese Geschichte, Frau Kollegin. Aber Sie haben uns nicht erzählt, warum Ihr Nachbar gerade am Weihnachtsabend immer auf Fahrt sein wollte? Hat er denn niemanden, mit dem er feiert?

Die junge Lehrerin stutzte, dann schüttelte sie den Kopf und sagte:

Nein, darüber hat er nie etwas gesagt — oder vielleicht doch? Er hat einmal gesagt: Wenn alle vernünftig sind, muß einer spinnen. Und der eine, der bin hält ich.

Nun lachte die Klasse, auch der Lehrer lachte. Draußen läutete die Schulglocke das Pausenzeichen. Der Lehrer ging mit der Lehrerin in den Konferenzraum.

Ich meine, sagte er, Ihr Nachbar hat nicht so unrecht. Wenn alle vernünftig sind, muß einer spinnen. Er muß das System offenhalten, sonst erstarrt es, und das ist dann auch eine Art höherer Vernunft.

Die Lehrerin blieb stehen und blickte den Lehrer verwundert an.

Ach, sagte sie dann, so hab ichs noch gar nicht gesehen! Dann ging sie weiter. Wohlgelaunt und immer noch lächelnd biß sie ^n ihren Pausenapfel.

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