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In Odessa zählt man nicht die Opfer

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Die ukrainische Mafia hat ihre Tätigkeit nach dem Sturz des Kommunismus auch in Länder Mittel- und Westeuropas verlegt. Vor kurzem gab es diesbezüglich ein Treffen des ukrainischen Staatschefs Leonid Krawtschuk mit höchsten Repräsentanten des Innenministeriums. Die Kriminalität in der Ukraine ist nicht in den Griff zu bekommen.

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Die ukrainische Mafia hat ihre Tätigkeit nach dem Sturz des Kommunismus auch in Länder Mittel- und Westeuropas verlegt. Vor kurzem gab es diesbezüglich ein Treffen des ukrainischen Staatschefs Leonid Krawtschuk mit höchsten Repräsentanten des Innenministeriums. Die Kriminalität in der Ukraine ist nicht in den Griff zu bekommen.

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Der ausländische Besucher der zweitgrößten Republik der ehemaligen UdSSR registriert, wenn er mit dem Auto reist, überall Miliz und Polizei, die an verschiedenen Stellen Straßensperren errichtet haben. An diesen Schranken gilt es stehenzubleiben, als handle es sich um eine Grenze. Auf der rund 1.000 Kilometer langen Strecke von der polnischen Grenze nach Odessa kann man das mehrmals erleben.

Immer wieder warnen Polizisten vor bewaffneten Banditen. Unweit der Stadt Winniza haben uns - eine Gruppe tschechischer Journalisten -Polizisten davor gewarnt, in der Nacht, bis etwa sechs Uhr morgens, weiterzufahren, weil diese Region besonders gefährlich ist.

Odessa, mit heute etwa 1,4 Millionen Einwohnern, wurde schon in der Zarenzeit als Stadt des Verbrechens bezeichnet. Sie blieb es auch in der Zeit des Sozialismus - jetzt ist die Situation noch schlimmer. W. I. Kuzenko, Kommissar der Kripo von Odessa, erzählt, daß sich das organisierte Verbrechen in erster Linie auf „racketeering” spezialisiert hat (Schutzgelderpressen).

Ein untypischer Fall ereignete sich unlängst im Stadtzentrum in der Puschkinstraße. Um 19 Uhr fuhren drei Mafiosi mit einem Wolga vor einer Privatgaststätte vor, um Geld abzukassieren. Der Inhaber war aber schneller, er konnte eine Handgranate auf das Auto werfen. Das Ergebnis: Zwei tote Verbrecher auf der Straße, auf der zu dieser Zeit gerade viele Leute spazierengingen.

Ein paar Tage vor diesem Zwischenfall wurde der Standort der Miliz in Odessa mit Handgranaten schwer verwüstet. Auf dem Hauptbahnhof gelang es einem geistesgegenwärtigen Polizisten, eine Tragödie in letzter Sekunde zu verhindern: ein Mann hatte versucht, eine Handgranate zu entsichern und in die Menge zu werfen. Aus drei Metern Entfernung konnte ihn der Polizist erschießen. Zu den Opfern des organisierten Verbrechens zählt in diesem Sommer auch der Direktor eines Betriebes und Abgeordnete des Regionalsowjets, Oleg Demtschenko. Sein Auto explodierte in dem Augenblick, als er es starten wollte - mitten im Stadtzentrum von Odessa.

Acht Mafiagruppen

Ein etwa 25 Jahre alter Mann, Mitglied der Spezial-Milizeinheit Berkut (früher Omon), der nach dem Militärdienst der Polizei beitrat, über seine Motive, an der Verbrechensbekämpfung mitzuarbeiten (seinen Namen will er nicht genannt wissen): Ein Verwandter wurde von Unterweltlern mit Messerstichen ermordet. Jeden Tag, so sagt er, sterben in Odessa ein oder zwei Menschen eines gewaltsamen Todes. Der oben genannte Kommissar Kuzenko wagt es nicht, Statistiken zu veröffentlichen.

Der 25jährige Kripomitarbeiter erzählt, daß Odessa von acht Mafiagruppen beherrscht wird, die die Stadt in „Zuständigkeitsbezirke” eingeteilt haben. Zeitweise kommt es aber zu Uneinigkeiten und Kämpfen untereinander. Ein Hauptproblem sfhd korrupte Beamte. Die Arbeit von Berkut - die 200 Mitarbeiter der Spezialein-heit riskieren nicht selten ihr Leben -wird von der Bevölkerung anerkannt. Verdienst bei Berkut: 45.000 ukrainische Kupons monatlich. Dafür sind sechs Kilogramm Fleisch oder ein Winteranorak zu bekommen. Eine eigene Wohnung hat unser Gesprächspartner - sowie die Hälfte seiner Kollegen - allerdings noch nicht.

Die Polizei in der Ukraine leidet unter unzulänglicher technischer Ausrüstung, niedrigen Löhnen, unvollkommenen Gesetzen, einer überdimensionierten Bürokratie - und auch unter der Korruption in eigenen Reihen. Kommissar Kuzenko meint, daß die Kooperation der ukrainischen Milizgewerkschaften mit Polizeigewerkschaften aus anderen Staaten Europas die Situation ein wenig verbessern helfen könnte.

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