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In Polen hat sich alles geändert

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Wszystko sie zmienilo - Alles hat sich verändert. Der erste Eindruck täuscht nicht. Polen hat ein anderes Gesicht bekommen. Nach vierzig Jahren kommunistischer Herr- schaft atmet ein Land wieder auf.

Eine Reise nach Krakau? Bisher eine Qual, immer mit zahlreichen Unannehmlichkeiten und Be- schwernissen verbunden. Visa, Zwangsumtausch, endlose Warte- zeiten, Kontrollen an den Grenzen... Und heute? Man ist überrascht über die höflichen, korrekten tschechi- schen und polnischen Zöllner (die sogar lächeln können). Der Reiseverkehr hat sich in einem Maße normalisiert, das vor wenigen Jah- ren noch undenkbar schien.

An den Gesichtern und in Ge- sprächen vieler mitreisender Polen wird klar, daß sie jetzt „viel lieber nach Hause fahren als früher". Po- len ist tatsächlich ein freies Land geworden, wenn auch mit Ein- schränkungen.

Nach rund einem Jahr Regierung Mazowiecki hat sich die Versor- gungslage wesentlich gebessert. Keine Menschenschlangen mehr vor den Geschäften, das Warenangebot erreicht schon fast westlichen Stan- dard.

In Tarnow beispielsweise, einer Industriestadt mit rund 100.000 Einwohnern, 80 Kilometer östlich von Krakau, geht es auf dem Markt- platz zu wie in einem orientali- schen Basar. Das Gedränge ist zeit- weise beängstigend. Die Fülle von Obst, Fleisch, Gemüse, Textilien und alltäglichen Gebrauchsgegen- ständen überrascht.

Einziger Wermutstropfen dabei sind die für polnische Verhältnisse überaus horrenden Preise.

Auf den Straßen locken „fliegen- de" Händler mit Fruchtsäften aus Österreich, modischen T-Shirts Marke „Benetton" aus Italien, Musikkassetten und frisch impor- tierten Pfirsichen. Gekauft wird nach Stück, der Kilopreis von rund 15.000 Zloty (ein Dollar rund 10.000 Zloty) macht Pfirsiche für Polen zum Luxusvergnügen. Ein wilder Frühkapitalismus überbrückt den Übergang von sozialistischer Man- gelwirtschaft zu marktorientierter Normalität.

Auch die alte Königsstadt Kra- kau strahlt neuen Glanz aus. Der Grauschleier aus Umweltgiften des nahegelegenen Industriezentrums Nowa Huta und ätzende Abgase Hunderttausender Autos können nicht verhindern, daß das Leben bunter und lebendiger geworden ist. Die schönen Renaissancehäu- ser der Innenstadt präsentieren sich frisch restauriert, Restaurants und Geschäfte spüren die Konkurrenz und bemühen sich erstmals sicht- lich um Kundschaft.

Ähnlich lebendig und vielfältig präsentiert sich auch das Zeitungs- angebot. Immer mehr Blätter wer- den den informationshungrigen Po- len angeboten. Die schonungslose und ungeschminkte Berichterstat- tung arbeitet die jüngste Vergan- genheit auf. Beispielsweise wird der „Fall Jerzy Popieluszko" wieder aufgerollt, wobei neue, unbekann- te Facetten ans Tageslicht kommen, die die Ära Jaruzelski in keinem guten Licht erscheinen lassen.

Unweit der weltberühmten Tuch- hallen in der Ulica Wisla befindet sich die Redaktion des „Tygodnik powszechny", über Jahrzehnte hinweg das intellektuelle Zentrum des Landes. Das Deutsche Fernse- hen porträtierte kürzlich Chefre- dakteur Jerzy Turowicz als „den Mann des polnischen Frühlings". Auch heute noch laufen viele Ka- näle bei ihm zusammen, Tadeusz Mazowiecki sucht bei ihm ebenso Rat wie Lech Walesa und Bronis- law Geremek. Seine Idee des „Run- den Tisches"half mit, das Macht- monopol der Kommunistischen Partei zu brechen.

Heute wirkt er in der kleinen Redaktion des „Tygodnik" etwas verloren. Neue und junge Gesichter sind aufgetaucht. Viele langjährige Freunde und Redaktionskollegen sind in die Politik abgewandert. Krzystof Kozlowski beispielsweise ist heute Innenminister, Jozefa Henneiowa Abgeordnete im polni- schen Senat, Mieczyslaw Pszon vertritt Polen bei den deutsch-pol- nischen Verhandlungen und Wla- dislaw Bartoszewski kommt als neuer Botschafter seines Landes nach Wien.

„Manches ist dadurch schwierig geworden", resümiert Turowicz, der selber aus Lemberg stammt, unter einem großen Bild Kaiser Franz Josephs. Die jungen Leute in der Redaktion seien weniger an kirch- lichen Themen als an Politik inter- essiert. Der kulturelle Bruch für das Blatt ist offensichtlich. Dabei steht seit jeher kein geringerer als Papst Johannes Paul II. dem „Ty- godnik" besonders nahe. Von Turo- wicz läßt sich der Papst persönlich mehrmals im Jahr über die Vorgän- ge in seiner Heimat unterrichten.

Wie wird es weitergehen in Po- len? Turowicz verweist auf die kommenden Wahlen im Frühjahr. Die Ära Jaruzelski wird dann end- gültig zu Ende sein. Als Nachfolger möchten er und seine von ihm ins Leben gerufene „Demokratische Aktion" Tadeusz Mazowiecki an der Spitze des Staates sehen, der bei vielen Polen erstaunlich große Sympathien gewonnen hat. Auf keinen Fall, meint er, sollte Lech Walesa Präsident werden.

Walesa, die Symbolfigur der pol- nischen „Solidarnos'd" von 1980 und Friedensnobelpreisträger hat mit- lerweile viel Unruhe in seine Ge- werkschaftsbewegung gebracht. Seine unverhohlenen Ambitionen auf das Präsidentenamt und abfäl- ligen Bemerkungen über die intel- lektuelle Führungsschicht der „Solidarnos'c'" („Eierköpfe") wie Geremek, Adam Michnik sowie Ma- zowiecki und Turowicz haben viel böses Blut gemacht.

Walesa nützt dabei die Ungeduld vieler seiner Landsleute. Ihm ge- hen die Reformen der Regierung Mazowiecki zu langsam und zu wenig einschneidend vor sich. Doch vier Jahrzehnte Kommunismus lassen sich nicht in wenigen Jahren so einfach aufarbeiten. Für Turo- wicz bleiben daher die Erfahrun- gen von zehn Jahren „Solidarnos'd" eine „notwendige Vorstufe" bis zu einer endgültigen Demokratisie- rung und damit Reifung Polens für Europa.

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