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In Riga gefällt es den Russen gut

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Der Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 gehörte zu den Jubiläen dieses Jahres, für die sich - Gott sei Dank! - niemand findet, der sie feiern möchte.

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Der Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 gehörte zu den Jubiläen dieses Jahres, für die sich - Gott sei Dank! - niemand findet, der sie feiern möchte.

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Für viele, besonders westeuropäische, Kommunisten war er eine zwei Jahre dauernde große Peinlichkeit, die sie jedoch angesichts der enormen Opfer, die die Sowjetunion später im Kampf gegen Hitlerdeutschland brachte, aus dem Gedächtnis verdrängen durften. Bis heute sichtbare Folgen hatte jedoch ein gleichzeitig vereinbartes geheimes Zusatzprotokoll, in dem sich Hitler und Stalin einem der Lieblingsspiele der Mächtigen hingaben: Sie teilten die Welt auf.

Das Spiel „mir ein Stückerl Polen, dir ein Stückerl Polen“ war ja schon seit vielen Generationen in Schwung. In dem Teil Polens, der an die Sowjetunion kam, lebten vorwiegend Ukrainer und Weißrussen, für deren Einbeziehung in die entsprechenden Sowjetrepubliken durchaus auch gute Gründe vorzubringen waren.

Rumänien mußte jedoch ein überwiegend von Rumänien besiedeltes Gebiet abtreten. Stalin verwandelte diese Rumänen in „Moldauer“ und zwang sie, ihr Rumänisch in kyrillischen Lettern zu schreiben. Daß dieses Arrangement die Rumänen nicht freut, merken die sowjetischen Führer bis heute.

Polen und Rumänien blieben, wenn auch in reduziertem Umfang, bestehen, die drei baltischen Staaten wurden jedoch, ebenfalls auf Grund des geheimen Zusatzprotokolls, zu Sowjetrepubliken; nur Finnland wehrte sich erfolgreich gegen das von den beiden Diktatoren vorgesehene Schicksal.

Litauen, Lettland und Estland errangen die Selbständigkeit in den Jahren 1918-20, 1940 mußten sie in den Verband desselben Reiches zurückkehren, dem sie vor 1918 angehört hatten.

In den zwanzig Jahren der Selbständigkeit teilten die drei Länder das Schicksal der Staaten Mittel- und Osteuropas. Sie begannen mit großer Begeisterung demokratische Republiken aufzubauen, gaben sich Verfassungen nach französischem Vorbild und schufen eine große Zahl von kleinen Parteien. Die schwerfälligen Systeme, die auch Völkern mit langer demokratischer Tradition Schwierigkeiten bereitet hätten, überstanden die Weltwirtschaftskrise nicht. In Litauen nahm die parlamentarische Ordnung schon 1929 ein Ende, in den beiden anderen Ländern 1934. Die autoritären Landesväter - Smetona, Ulmanis und Päts - dachten wohl gar nicht daran, Zwangssysteme zu errichten. Politische Verfolgung gab es kaum.

Auf dem Weg zur Estnischstunde begegnete mir im Winter 1938/39 in Dorpat (Tartu) oft ein würdiger Mann mit wunderschönem Bart; es war der einstige politische Gegenspieler von Päts und dessen Vorgänger als Ministerpräsident. Er absolvierte friedlich seinen Nachmittagsspaziergang.

Vor allem ging der Ausbau des nationalen Kulturlebens auch nach der Auflösung der Parlamente schwungvoll und weitgehend unbehindert von der Politik weiter. Unter den Intellektuellen gab es gewiß viele mit Sympathien für den Sozialismus, doch die Masse der Bevölkerung bestand aus Bauern, denen nicht verborgen blieb, wie man in der benachbarten Sowjetunion während der Kollektivierung der Landwirtschaft mit den Bauern verfahren war. Sie wünschten sich gewiß kein kollektivistisches Beglückungssystem, doch wie sollten sich diese Zwergstaaten ohne fremde Hilfe gegen die zwangsweise Eingliederung in die Sowjetunion zur Wehr setzen?

In den offiziellen Darstellungen werden diese Ereignisse so dargestellt, als hätte eine Volksbewegung die Regierung zur Abdankung gezwungen und eine kommunistische Ordnung hervorgebracht. Ich war als Vierzehnjähriger zufällig Zeuge der Demonstration in Dorpat, auf die sich die Staatshistoriographen beziehen.

Dorpat war das Kulturzentrum des kleinen Landes, die zweitgrößte Stadt mit etwa 60.000 Einwohnern. Die Demonstranten rückten etwa in der Stärke von 200 Mann auf den Rathausplatz, wo sich bald eine viel- hundertköpfige staunende und teils auch amüsierte, weil ahnungslose Zuschauermenge versammelt hatte. Als die Demonstranten sich einige Reden angehört hatten und wieder abmarschierten, war der vielzitierte Volkswille auf ungefähr 50 Mann zusammengeschrumpft. In meiner Erinnerung prägte sich dieses Erlebnis gleichsam als Maß der Ereignisse ein.

Als Österreicher hat man es ein wenig schwerer als andere, den Verlust nationaler Souveränität zu beurteilen. Einerseits haben wir unfaßbares Glück gehabt mit unseren Bemühungen, unsere Selbständigkeit zu bewahren, anderseits haben wir in den vergangenen Jahrhunderten einem Staat den Namen gegeben, in dem eine Vielzahl von Völkern lebte, und wir reden uns doch immerfort ein, es hätte ihnen bei uns so gut gefallen.

Muß es denn unbedingt sub specie aetemitatis nur ein Nachteil sein, innerhalb einer größeren Gemeinschaft zu leben? Immerhin gibt es die Sowjetrepubliken Moldau, Litauen,Lettland und Estland. Sie pflegen ihr nationales Kulturgut und haben volle Bildungssysteme in den Nationalsprachen; Nationalökonomen gleich welcher Weltanschauung werden gewiß Vorteile in der Zugehörigkeit zu einem großen Wirtschaftsraum , sehen.

Es gibt allerdings eine Entwicklung, die gewiß viele Menschen in Lettland und Estland beunruhigt: Die starke Einwanderung von Russen. Die Moldau und Litauen sind davon kaum betroffen.

Die stärkere Regionalisierung der Wirtschaft seit 1958 hat dazu geführt, daß die Industrialisierung in Lettland und Estland schneller voran ging als in anderen Teilen der Sowjetunion, und zwar so schnell, daß die heimischen Arbeitskräfte nicht mehr ausreichten. Die zugewanderten Arbeitskräfte waren vorwiegend Russen, in geringem Masse auch Weißrussen und Ukrainer.

Am deutlichsten zeigt sich die Entwicklung in der nationalen Zusammensetzung der einzigen alten großen Industriestadt des Gebietes, der lettischen Hauptstadt Riga. In der Zwischenkriegszeit machten die Russen 9 Prozent der Bevölkerung aus, nach der Volkszählung von 1970 waren es bereits 42,8 Prozent, während die Letten nur 40,9 Prozent stellten. Mehr als die Hälfte der Letten sprach gut Russisch, nur 15 Prozent der Russen beherrschten das Lettische, denn die Sprache des Gesamtstaates ist Russisch, auch die meisten in Lettland geborenen Russen nehmen sich nicht die Mühe, die Landessprache zu erlernen. Die zugewanderten Russen sind also nur zu einem ganz geringen Teil in die lettische Gesellschaft integrierbar.

In der Republik Lettland stieg der Anteil der Russen in den Jahren 1959 bis 1970 von 26,6 auf 29,8 Prozent, der Anteil der Letten sank von 62 auf 56,8 Prozent. Wenn diese Tendenz anhält, werden die Letten in Lettland etwa 1983/84 unter die 50-Prozent-Grenze sinken und im Jahre 2010 wird es nur noch 36 Prozent Letten, aber 42,6 Prozent Russen in Lettland geben.

Die Tendenzen in Estland sind sehr ähnlich, es werden bei anhaltendem Trend die Esten im Jahre 2000 nur noch 49 Prozent der Bevölkerung ausmachen und im Jahre 2010 wird es mehr Russen als Esten in Estland geben; in der Zwischenkriegszeit machten die Russen nur 8 Prozent der Bevölkerung Estlands aus.

Wird ein heute etwa zwanzigjähriger Lette oder Este, auch wenn er von der kommunistischen Ordnung begeistert ist und die Zugehörigkeit zur Sowjetunion bejaht, von der Aussicht erfreut sein, als Fünfzigjähriger in seinem eigenen Land Angehöriger einer Minderheit zu sein? Die fortschreitende Automation mag den Arbeitskräftesog verringern oder ganz beenden, doch die Russen (etwa 1 Million), die bereits 1970 in den beiden Ländern lebten, werden wohl bleiben, denn man hört, es gefalle ihnen da ganz außerordentlich gut.

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