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„In terra pax“ und klassische Messen

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„Dauer und Besetzung des Werkes waren mir vorgeschrieben und unterbanden langwieriges Zaudern. Solcherart schrieb ich von August bis Oktober 1944 ,In terra pax', zeitweise mit den alliierten Armeen um die Wette laufend. Sie ließen mir leider zu viel Zeit!“ — Das ist echter Frank Martin: im Vorrang des Christlich-Menschlichen vor dem rein Künstlerischen... Es handelt sich nämlich bei dieser Komposition, einem Oratorium für fünf Solostimmen, zwei Chöre und Orchester, um eine Auftragskomposition von Radio Geneve, die am Tag des Waffenstillstands nach dem schrecklichsten aller Kriege zum ersten Mal aufgeführt und in die ganze freie Welt (die damals sehr klein war) ausgestrahlt werden sollte ...

Welcher Komponist hätte sich da nicht noch ein wenig mehr Zeit gewünscht für ein mehr als halbstündiges Werk? Aber Martin ersehnte noch dringender das Ende des Mordens. „In terra pax“ ist auch insofern bemerkenswert, als Martin hiermit sein erstes für den Konzertgebrauch bestimmtes geistliches Opus schrieb. Dertn was er früher an Sakralmusik komponiert hatte, erschien anonym und war ausschließlich für den Gottesdienst bestimmt. — Das zehnte Kind eines Genfer evangelischen Pastors hatte zwar von Jugend auf zur Kirchenmusik, besonders zu Bach, enge Beziehungen. Aber trotzdem war er der Meinung, daß Kirchenmusik im traditionellen Sinn jetzt kaum mehr möglich sei, da doch der Glaube heute—im Unterschied

zum Mittelalter — keineswegs als selbstverständlich vorausgesetzt werden könne. Und ebenso wenig entspreche der Eigenstil eines Komponisten dem consensus omnium. Aber jetzt, dieses eine Mal, glaubte der Christ und Künstler Martin, an ein „religiöses Kollektivbewußtsein“, wie er sich ausdrückte, appellieren zu können. Und da er den Gefühlen aller Menschen Ausdruck geben wollte, mied er das Latein und übertrug die von ihm gewählten Texte in die französische Sprache.

Am vergangenen Freitag wurde im Großen Musikvereinsaal im Rahmen eines außerordentlichen Gesellschaftskonzertes Martins „Oratorio breve“ unter Helmuth Froschauers Leitung durch den Singverein, das ORF-Symphonieor ehester und die Solisten Margaret Marshall — Sopran, Axell Gall — Mezzo, Anton Dermota — Tenor, Ernst Schramm

— Bariton und Helmuth Berger-Tuna

— Baß, aufgeführt. Die beiden Klaviere, die den feierlich-sonoren Klaijg des Orchesters unüberhörbar färben, spielten Helmut Deutsch und Carlos Rivera. Das überaus ein- und ausdrucksvolle Werk besteht aus elf kontrastierenden Nummern, die in vier Teile zusammengefaßt sind. — Der Anfang,, ein ausgedehntes, fast melodramatisches Bariton-Solo, befremdet ein wenig. Denn das klingt nicht nach Martin, sondern nach der sehr emotionellen, effektvollen Musik eines beliebigen Zeitgenossen.

Aber dann gleich in der zweiten Chornummer („Mein Gott, mein Gott...“) spürt man die Hand des Meisters mit dem unverwechselbaren Klang, seinem typischen Chromatismus, den kleinen Tonschritten, die Nähe zum französischen Impressionismus — und seine ganz persönliche Adaptierung. Auch Zwölftonreihen werden verwendet, die Martin gelegentlich um zwei weitere Stufen erweitert. Aber wer es nicht vorher weiß, bemerkt es kaum. Und das ist gut so. Denn im ganzen erweist sich Martin auch in diesem Werk als ein feiner, undoktrinärer Musiker, dem freilich die episch-lyrischen Partien des der Bibel entnommenen Textes mehr liegen als die dramatisch-apokalyptischen. — Wie schön ist etwa im vierten Stück der Wechselgesang von zweitem Tenor, anderen Soli und zweitem Chor; wie wirkungsvoll das trompetenhafte „Wächter, sage, was dir kündet die Nacht?“ von Anton Dermota mit jugendlichem Elan und prachtvollem Timbre in den Saal geschmettert, wie meisterhaft ist in der siebenten Nummer ein Kanon beider Chöre eingebaut! Und wie feierlichzurückhaltend ist das „Vaterunser“, das der Chor (sehr richtig!) sitzend mit halblauten Stimmen psalmodiert. Überhaupt dieser Chor! An manchen Steilen glaubt man ihn, nach einem Blick in die Partitur, überfordert. Aber er kann wirklich alles. Jedenfalls ist er unter der Leitung Hel-muth Froschauers jeder Schwierigkeit gewachsen. Doch was wir an Froschauer noch besonders hervor-

heben müssen, ist, daß er das Orchester keineswegs vernachlässigt — was bei Chorleitern so häufig vorkommt, aber bei Martin sehr falsch wäre.

*

Die den ersten Teil des Konzerts bildende C-Dur-Messe op. 86 von Beethoven (mit den gleichen Solisten, ohne Bariton und mit Rudolf Scholz an der Orgel) können wir nur noch erwähnen. Aber wir tun es mit Nachdruck, denn sowohl die Komposition wie ihre Wiedergabe war von hohem Rang. Ja, man könnte sich vorstellen, daß es Musikfreunde gibt, denen dieses (gleichfalls) 40 Minuten dauernde Meisterwerk lieber ist als die große, berühmte 15 Jahre später entstandene „Missa solemnis“. — Aber um dies zu begründen, müßten wir uns auf ein weites Feld begeben, nämlich auf das immer wieder umstrittene der Kirchenmusik des späten 18. und des ganzen 19. Jahrhunderts. Darüber vielleicht ein anderes Mal...

Helmut A. Fiechtner

Geistliche Musik Wolfgang Amadeus Mozarts in der Wiener Franziskanerkirche konzertant durch den Wiener Motettenchor aufgeführt, entbehrte der jugendlichen Spannung, mit der sie konzipiert und in liturgischen Aufführungen mit der gläubigen Herzensstimmung aufgefüllt wird, wo Versagen da und dort hörbar wird. Die sich wenig variierende Dynamik des Chores und der Solisten konnte keine rechte Äquivalenz aufbauen, so daß dem kleinen Kammerorchester allein alle Impulse aufgetragen waren, eine differenzierte Schattierung der Jugendwerke aus der Salzburger Zeit zu schaffen. Die vorzüglich restaurierte, aber wenig akustische Franziskanerkirche beeinträchtigte die Ausgewogenheit

des Klangbildes der „Missa brevis“, KV 275; hier kam der Chor dem Impetus Mozartschen „kammermusikalischen“ Messe-Ideals am nächsten. In der „Lauretanischen Litanei“ aus dem Jahre 1771 stand das inhomogene Soloquartett vor der Aufgabe, in die zeitlose Form der Marienverehrung des Barocks einzuführen. Das „Sub tuum praesidium“, ein Offertorium zu Ehren der seligsten Jungfrau und Gottesmutter, gehört zu den apokryphen Werken, ebenso ungesichert ist die Annahme des Entstehungsortes. Aber seine „Kantabilität“ ließ es zu einem „echten“ Mozart aufsteigen. Beim „Te Deum“- aus dem Jahre 1769 dagegen wird der stark von Michael Haydn angeregte „Ambrosianische Lobgesang“ erst in unserer Zeit endgültig als authentischer Mozart deklariert. Die Solisten waren: Jane Gärtner, Sopran; Adelheid Schmid, Alt; David Edmonds, Tenor; Gerhard Eder, Baß; Josef Boele, Orgel und Bernhard Klebel, Leitung.

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