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In Wasser und Wind

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Der Sturm war so stark, daß draußen im Garten die Blätter an den Ästen und selbst die Zweige mit dem Wind dahin-strömten, aber gegen jede Erwartung schließlich trotz all der Bewegung doch immer am Platz blieben wie auch die Wasserpflanzen, die er schon oft von der Brücke zum Fluß hinunterschauend beobachtet hatte und die mit dem Wasserlauf dahinzutreiben scheinen, aber im Flußbett verwurzelt bloß den Wellenbewegungen folgend, alles von einem Augenblick zum nächsten anders und doch immer gleich.

Dort war, so überlegte er weiter, wenigstens das Wasser zu sehen. Hier ist der Wind ganz und gar unsichtbar, bloß im Auf und Ab des Geästs und der Blätter erkennbar und in den Geräuschen, im Pfeifen, Sausen, Rascheln und in tausend anderen verschiedenen Lauten und Tonfolgen, im Knacken eines kleinen Zweiges, im dumpfen Fall eines morschen Astes oder gar eines alten Stammes wie eben jetzt in dieser Sekunde?

Er war aufgesprungen und zum Fenster gelaufen, als er das dumpfe Grollen und den darauffolgenden Schlag gehört hatte. So mußten die Menschen der Urzeit, die vor Jahrtausenden vor einem Unwetter in eine Höhle geflüchtet waren, den Donner gehört haben, die Schläge wie von weither kommend und durch ein klagendes Echo wahrscheinlich noch schrecklicher als draußen im freien Land. Aber weit entfernt und weder im eigenen Garten noch in der nahen Allee muß dieser Baum gefallen sein.

Er wandte sich vom Fenster weg und ging zurück zum Tisch. Vorher wollte er schon die Gardinen zuziehen, was ihm aber ein Zeichen von Mutlosigkeit zu sein schien. Er unterließ es. Er setzte sich und nahm das Buch zur Hand, in dem er bis vor kurzem gelesen hatte. Aber „Die sieben Säulen der Weisheit“ interessierten ihn nicht mehr. Wieder blickte er durch das Fenster hinaus zu den fast waagrecht dahinströ-menden und trotzdem an ihrem Platz bleibenden Blättern und Zweigen. Er schaute und dachte bald an den Fluß seiner Kindheit, wie er in Gedanken die Donau knapp vor ihrer Mündung und bereits den Balkan durchströmend noch immer nannte. Sein Vater hatte damals dort unten vom Tabakhandel gelebt. Aber wie lange ist das alles vorbei.

Und der Vater? Hat er mir nichi erzählt — drei Jahre war ich damals vielleicht, und er war überzeugt, nicht zu einer Person zu sprechen, sondern vielmehr zum Schicksal selbst? Oder zu Gott durch eines seiner Geschöpfe? Hat er mir nicht damals erzählt, daß er einst, als er selbst noch ein Kind gewesen war, gemeint hatte, unschuldig gewesen zu sein? Daß er aber sehr bald und nur wenig später begriffen hatte, niemals und nimmer unschuldig gewesen zu sein? Wahrscheinlich nicht einmal urigeboren im Leib der Mutter, denn selbst dort habe er sicherlich schon Böses im Sinn gehabt.

Habe ich dort gefühlt—fragte er mich damals und hatte sicherlich keine Antwort erwartet —, daß ich aus anderen Welten auf diese Erde kommend das Böse mitbrachte? Ich habe damals „ja“ gesagt und ernsthaft genickt. Seither hat er mich gehaßt.

Jetzt sitze ich da und schaue hinaus in den Garten. Ich sehe und weiß, daß der Wind wandert und nicht die Blätter oder die Zweige. Der Wind läuft weiter und nicht der Baum. Das Wasser fließt weg und nicht der Fluß. Der bleibt, wo er ist, und bloß das Wasser ist von einer Sekunde zur nächsten ein anderes.

Und ich? Das Wasser? Der Wind? Was bleibt? Was blieb von ihm? Bloß ich? Aber jetzt weiß ich doch, daß wir nicht die Bäume sind mit ihren Zweigen und mit den Blättern, nicht der Fluß mit den Pflanzen im Boden verwurzelt. Weshalb habe ich nicht schon früher gesehen, daß wir der Wind sind und das Wasser? Daß wir das Weitergehen sind. Die Bewegung. Und bloß die Dinge um uns stehen fest. Nur die sind immer dieselben. Aber wir sind das Leben. Wir gehen weiter. Wir laufen und springen. Wind und Wasser sind wir.

Er stand auf und ging zur Tür. Er trat in den Garten, um draußen den Sturm zu spüren. Er ging zur Brücke, um unten das Wasser zu sehen. Er war glücklich.

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