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Indien erwacht aus autoritärem Tiefschlaf

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Ganz Südasien ist vom Wahlfieber ergriffen. Der totgesagte Demokratie-Bazillus ist also regenerationsfähig. Pakistan hat bereits gewählt. In Indiras Indien, in Sri Lanka (Ceylon) werden fast 300 Millionen Menschen zu den Wahlurnen gehen. Mehr als 800 Millionen werden von den Wahlresultaten betroffen sein. Echte Entscheidungen werden wieder mit dem Stimmzettel gefällt, einem Stimmzettel mit verschiedenen Parteien und Parteisymbolen zum Aussuchen. In Pakistan, das seit der Staatsgründung die Demokratie nur als turbulentes Zwischenspiel mit tragischem Ausgang gekannt hat, mögen Entscheidungen vorbestimmt sein. In Sri Lanka und vor allem in Indien, wo Demokratieentzug und autoritäres Regime immer nur verkrampfte Extempore waren, bleibt alles offen.

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Ganz Südasien ist vom Wahlfieber ergriffen. Der totgesagte Demokratie-Bazillus ist also regenerationsfähig. Pakistan hat bereits gewählt. In Indiras Indien, in Sri Lanka (Ceylon) werden fast 300 Millionen Menschen zu den Wahlurnen gehen. Mehr als 800 Millionen werden von den Wahlresultaten betroffen sein. Echte Entscheidungen werden wieder mit dem Stimmzettel gefällt, einem Stimmzettel mit verschiedenen Parteien und Parteisymbolen zum Aussuchen. In Pakistan, das seit der Staatsgründung die Demokratie nur als turbulentes Zwischenspiel mit tragischem Ausgang gekannt hat, mögen Entscheidungen vorbestimmt sein. In Sri Lanka und vor allem in Indien, wo Demokratieentzug und autoritäres Regime immer nur verkrampfte Extempore waren, bleibt alles offen.

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Ich glaube allmählich an ein indisches Wunder, das, wenn auch weniger deutlich, in den anderen Nachfol- geländem des englischen Kolonialreiches in Südasien ebenfalls zu erkennen ist: Demokratie und Parlamentarismus sind wieder zu Ehren gekommen. „Die oben” wollten die gute alte Fassade, „die unten” wollen unerwartet mehr. Es handelt sich nirgends um gelenkte, bodenständige Volksdemokratie, sondern um „Westminsterde- mokratie”. Die Parteien, herrschende und oppositionelle, selbst die Trotzkisten in Sri Lanka oder die Islamzeloten in Pakistan, wetteifern miteinander, wer der bessere Demokratieverteidiger ist und bezichtigen einander gegenseitig, der Demokratie nach dem Leben zu trachten. Ein halbes Jahr ist es her, da war die Demokratie samt Zubehör (wie individuelle Freiheit und Pressefreiheit) noch ein Import aus dem „dekadenten” Westen, verächtlich, aber auch beunruhigend und als Retourware an den Erzeuger zurückgeschickt. Jetzt will, man sie so und nicht anders. Wer sie anders will, sagt es nicht. Er würde fortgeschwemmt werden. Von den autoritären Regimen war dosierte Demokratie und ein Befehlsempfängerparlament als Ausweis für Legitimität erstrebt worden. Unter dem Druck, der von allen Seiten kam, haben in Indien und in Sri Lanka selbst diese Planer die volle Demokratie in ihr Programm aufnehmen müssen. An erster Stelle, ohne Abstriche. Indira Gandhi und ihr Sohn Sanjai bitten um Vergebung. Hat es in den 19 Monaten des Ausnahmezustandes Zwang gegeben und Willkür, so soll das nicht wieder geschehen. Wie immer die Wahl ausgehen wird, der Wahlkampf geht um Diktatur oder Demokratie. Dem Wahlsieger, selbst wenn er wieder die regierende Kongreßpartei ist, die man der Diktatur bezichtigt, wird es noch lange Zeit schwerfallen, vom demokratischen Weg abzuweichen.

In Indien, wo der Fall am tiefsten war, ist jetzt das Verlangen nach Wiederherstellung am intensivsten. Am Morgen des 26. Juni 1975 war plötzlich der Ausnahmezustand da und die oppositionellen Politiker saßen in den Gefängnissen. Das Land und die Ministerpräsidentin waren damals nach zwei Jahren der Dürre und der ununterbrochenen Krise erschöpft. Indira suchte im Ausnahmezustand den Ausweg. Und die Menschen ließen ihn über sich ergehen. Es bedurfte nur dieser Nacht vom 25. auf den 26. Juni. 18 Monate später wurden fast ebenso unvorgesehen, ebenso plötzlich, Märzwahlen festgesetzt. Der Ausnahmezustand ist liberalisiert worden, man erwartet, daß er aufgehoben wird. Es hat zwei gute Monsune gegeben, drei gute Ernten. Indira Gandhi dachte, das werde schon für sie sprechen. Doch es wirkte gegen sie. Es gibt noch Hunger und es gibt noch Not, aber das Land ist nicht mehr erschöpft, es ist erstarkt.

Dazwischen liegt der Versuch der zur Alleinherrscherin gewordenen Indira, dem aus Not und Krise entstandenen Ausnahmezustand einen positiven Inhalt zu geben: Nation Indien. Die 21 Föderativstaaten sollten durch eine Zentralisierungspolitik miteinander verschweißt werden. Eine Politik der Reichseinheit begann. Ihr Exekutor: Sanjai Gandhi, Sohn der Ministerpräsidentin, der erst ihr Stellvertreter, dann allmählich ihr Nachfolgerwerden sollte. Indira sah sich als die Brücke zwischen Vater Jawaharlal Nehru, dem Staatsgründer, und Sohn Sanjai, dem Vereiniger und Erneuerer.

Während in dieser Zeit der guten Monsune die wirtschaftliche Talfahrt gestoppt werden konnte, scheiterten Indiras politische Pläne. Schutzhaft und Pressekontrolle verhinderten, daß die politischen Mißerfolge die Stabilität ihres autoritären Regimes gefährdeten. Der Ausnahmezustand war bereits als Normalzustand akzeptiert, der Widerstand atomisiert. San- jais Emeuerungsprogramm führte aber zu Zwangseingriffen in die traditionellen Tabuzonen von Religion und Familie. Das Recht des Ärmsten auf behördliche Nichteinmengung in Familienaffären war selbst von den Mongolendespoten geachtet worden und wurde nun duręh Sargais Kampagne der Geburtenbegrenzung und durch die Zwangssterilisierung durchbrochen. Das hat die städtische Empörung über den Entzug der traditionellen Freiheit mit der dörfischen Empörung über den Entzug der traditionellen Rechte vereint. In Indien ist aber Empörung nicht explosiv. Der indische Widerstand ist wie Gras. Er neigt sich unter dem Stiefel und richtet sich auf, wenn die Herrschaft - ermüdet - den Fuß hebt. Warum hat Indira Gandhi den Fuß gehoben, Wahlen ausgeschrieben, die Führer der Opposition aus der Schutzhaft entlassen? War es eine Fehlrechnung?

Indira Gandhi hat sich tatsächlich verrechnet. Die Tochter des Jawaharlal hatte zur Elite des Widerstandes gegen England gehört, sie kannte daher nicht die vegetative Kraft des Widerstandes in der Tiefe. Eindreiviertel Jahre lang hat Ruhe geherrscht und Indira lockerte nun den Ausnahmezustand, der diese Ruhe erzwungen hatte: Wahlen! Ihre Berater haben am Abend vor dem Entschluß zur Demokratisierung noch schnell eine Milchmädchenrechnung aufgestellt: Von den 542 Parlamentssitzen sind uns 350 sicher! Aber Indira wußte natürlich, daß sie sechs Wochen lang zwischen der Lockerung des Ausnahmezustandes und dem erwarteten Wahlsieg ihre Künste ohne sicheren Sockel und in der freien Luft produzieren mußte. Nach vier Wochen anstrengender Wahläkrobatik ohne Sicherheitsnetz sprechen die Berater nunmehr von 300 Sitzen, die ihr und ihrer Partei sicher seien. Die Opposition, zur Wahl vereint, dreht die Formel bereits um; 300 Oppositionssitze gegen Indira. Weshalb hat Indira das Risiko auf sich ge- nommen? Nachdem sie den Ausnahmezustand proklamiert hatte, sprach sie von einer Demokratie, die sie aus dem Gleise gehoben habe. Die Demokratie, meinte sie, sei reparaturbedürftig gewesen, sie wolle später die von ihr reparierte Demokratie wieder in die von ihr neu verlegten Gleise ein- setzen. Sie wollte sich also von der Demokratie nicht trennen, aber es sollte eben ihre ganz persönliche Demokratie sein.

Im November des vergangenen Jahres empfing mich die indische Ministerpräsidentin. Ich hatte sie vorher nur bei offiziellen Anlässen gesehen und danach war sie ganz „Landesmutter” gewesen. Dann aber, in ihrem Arbeitszimmer, wirkte sie fast zierlich, feminin und verwundbar. Gerne hätte man ihr Schutz angeboten, doch man wußte, daß es die Gegner waren, die des Schutzes bedurft hätten. Sie sprach mit mir eine Stunde lang. Immer wieder kam sie ungefragt auf das Thema Demokratie zurück: Die Demokratie müsse für indische Bedürfnisse zurechtgeschnitten werden. Und die Inder müßten für die Demokratie geformt werden. Warum wolle der Westen das nicht verstehen? Sie deutete auch die Frage an, warum die Inder das nicht verstehen wollten. Im Ausnahmezustand würden sie Demokra tie lernen. Indira sprach wie eine Mutter, die mit Ohrfeigen ihre Kinder auf die straffreie Erziehung vorbereiten will.

Vor dem Gespräch hatte mir Indiras Justizminister Gokhale gesagt, es werde sehr bald Wahlen geben. Doch Sanjai sagte zur gleichen Zeit das Gegenteil. Indira selbst wirkte unentschlossen. Eine emotionelle und impulsive Frau mit Politinstinkt. Daß sie bald eine Entscheidung fallen werde, fühlte ich. Zwei Monate später hat sie die Entscheidung gefällt, aber diesmal dürfte ihr Instinkt sie im Stich gelassen haben. Anfangs sah es zwar so aus, als ob Indiras Rechnung aufgehen könnte. In den Städten war die Opposition zwar virulent, aber in den

600.000 Dörfern, wo 550 Millionen Menschen leben, lag noch Fremdheit und Ängstlichkeit um die aus der Haft heimgekehrten Anhänger der Opposition. Der Übertritt des Jagjivan Ram von der Regierungspartei zur Opposition hat dann aber die Dörfer mobilisiert. Der massive Führer der Unbe- rührbaren hatte seit Gründung der Republik dem Hause Nehru gedient. Die achtzig Millionen Unberührbaren gehen mit ihm. Heute steht er höher als der höchste Brahmane. Wer will ihm verwehren, einen Tempel zu betreten? Daß er es während seiner Dienstzeit zum Großgrundbesitzer gebracht hat, verstärkt nur seine Gottähnlichkeit.

Er ist 70 Jahre alt und hat Asthma.

Im Wahlkampf und als der Führer aller Unzufriedenen nimmt er ungeheuerliche Strapazen auf sich, schleppt sich von Dorf zu Dorf. Er meint es ernst. Als Tribun der Unzufriedenen, der zum Rivalen der Indira Gandhi geworden ist, fühlt er Verantwortung gegenüber den 650 Millionen Menschen in Indien. Er verfügt über keinen Apparat, keine Polizei, keine Armee.

Hinter ihm steht ein buntgewürfelter Haufen: Sozialisten, Hinduorthodoxe, Liberale, Mohammedaner. Von der Kanzel der Jamu Masjid, der größten Moschee Indiens, verkündet der Imam: „Einheit mit allen, die in den Kerkern gewesen sind. Einheit mit allen, die noch in den Kerkern sind, selbst mit den Hindueiferern!” Hunderttausend Mohammedaner hocken, eine dunkle Masse, in der Abenddämmerung auf dem Platz vor der Moschee. Frauen haben die Schleier vom Gesicht nach hinten geworfen. In ihrer Sprache heißt „Demokratie” Befreiung von der Geburtenrationierung, zumindest von der erzwungenen.

Die Demokratie ist aus dem Tiefschlaf erwacht. Jetzt ist sie keine Demokratie der Oberschicht, der Reichen mehr. Sie hat sich über alle Dqr- fer ausgebreitet. Doch ein Erwachen nach Monaten des Tiefschlafes ist immer riskant. Gehirnzellen können absterben.

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