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Indochina frißt endgültig seine Beschützer

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Wieder steht in Washington die Entscheidung für oder gegen ein stärkeres Engagement in Indochina auf des Messers Schneide. Es geht nicht um die Entsendung von Truppen, sondern nur um mehr Geld für die Unterstützung der Regierung Lon Nol und für Lebensmittellieferungen in die bedrängte Stadt Phnom Penh, die heute nur noch in Form einer Luftbrücke möglich sind. Lon Nol gebietet nur noch über Phnom Penh. Kann und soll Lon Nol von den Amerikanern gehalten werden? Welche Rolle spielt Lon Nöl als Stein im Damm gegen die oftzitierte rote Flut, die Südostasien zu verschlingen drohe? Braucht Indochina Dämme — können Dämme Indochina helfen?

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Wieder steht in Washington die Entscheidung für oder gegen ein stärkeres Engagement in Indochina auf des Messers Schneide. Es geht nicht um die Entsendung von Truppen, sondern nur um mehr Geld für die Unterstützung der Regierung Lon Nol und für Lebensmittellieferungen in die bedrängte Stadt Phnom Penh, die heute nur noch in Form einer Luftbrücke möglich sind. Lon Nol gebietet nur noch über Phnom Penh. Kann und soll Lon Nol von den Amerikanern gehalten werden? Welche Rolle spielt Lon Nöl als Stein im Damm gegen die oftzitierte rote Flut, die Südostasien zu verschlingen drohe? Braucht Indochina Dämme — können Dämme Indochina helfen?

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Während erste Vorposten des Khmer Rouge sich nur 800 Meter vom Zentrum der kambodschanischen Hauptstadt entfernt festgesetzt haben, diskutieren amerikanische Parlamentarier mit kambodschanischen Politikern. Die Fronten verlaufen längst nicht mehr nur zwischen den roten Aufständischen auf der einen und den Regierungstruppen nebst US-Verbündeten auf der anderen. Es gibt heute nicht nur eine weitere Kluft zwischen Beschützern und Beschützten, sondern auch das Lager der Beschützer ist entzweit. Die amerikanische Hilfe für Kambodscha ist in den Sog der außenpolitischen Interessen des Kongresses geraten. Das Kapitol macht dem Weißen Haus neuerdings Schwierigkeiten, wo es kann. Der amerikanisch-sowjetische Handelsvertrag wurde torpediert, Fords Wirtschaftsgesetzen wurden die Zähne gezogen, ein äußerst problematisches Kongreßveto gegen die amerikanische Militärhilfe für die Türkei leistete einen gewichtigen Beitrag zur Aufweichung der südöstlichen Nato-Front und führte dazu, daß Amerika heute nicht nur Griechenland, sondern auch der Türkei immer tiefer entfremdet wird.

Der in der Außenpolitik einst chronisch machtlose Kongreß ist von der Kontrolle der Außenpolitik längst zur Obstruktion übergegangen. Es geht um die Beschneidung der Präsidentenmacht fast um jeden Preis. Parlamentarier, die sich der Notwendigkeit enger Beziehungen zwischen Ankara und Washington durchaus bewußt waren, stimmten gegen die Fortsetzung der Militärhilfe und rechtfertigten es mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit, die amerikanischen Entscheidungsstrukturen zu ändern, was eben nur mit einer Strategie möglich sei, die taktische Einbrüche, wie das zerschlagene anatolische Porzellan zum Beispiel, als unvermeidlich hinnimmt.

Ist auch das Nein der Abgeordneten gegenüber den Geldforderungen der Regierung für die Unterstützung Lon Nols ein solches taktisches Manöver, das vitale außenpolitische Interessen inneramerikanischen

Mahtkämpfen opfert, oder ist der Kongreß wirklich der Meinung, daß die gegenwärtigen Machthaber Kambodschas, die kaum mehr Macht über ihre Hauptstadt haben, nicht länger unterstützt werden sollten? Manches deutet darauf hin, daß eine große Zahl amerikanischer Parlamentarier, die ein Leben lang nur Innenpolitik gekannt haben und Außenpolitik, wenn überhaupt, dann ebenfalls vorwiegend aus innenpolitischen Blickwinkeln betrachtet haben, mit den Vorstellungen romantischer Cowboys oder Pfadfinder in die Weltpolitik eintritt. Wo sie dann nicht selten ähnlichen Maximen und Verhaltensmustem folgen wie der „stille Amerikaner“ Graham Greenes.

Doch fragt sich, ob die Gegenseite, das Weiße Haus, mit einer Politik, die darauf hinausläuft, Lon Nol alles zur Verfügung zu stellen, was er braucht, außer Soldaten, besser beraten ist. Es wäre freilich auch die Möglichkeit ins Auge zu fassen, daß Kissinger und der, einem amerikanischen Kolumnisten-Bonmot zufolge, „unter ihm dienende Präsident“ bei der Hilfe für Lon Nol, die ihnen der Kongreß nicht bewilligte, ihrerseits eine Mentalreservation im Hintergrund hatten, die den Bündniseid fugenlos in den Offenbarungsaid hätte übergehen lassen.

Denn wie immer man die Sache dreht und wendet: Die Regierung Lon Nol ist auf lange Sicht überhaupt nicht zu retten, und auch auf kurze Sicht nur mit einem Aufwand an Menschenleben und menschlichem Elend, der den Zweck in Frage stellt. Die Einkreisung Phnom Penhs vollzog sich mit der Langsamkeit, Lautlosigkeit und Unaufhaltsamkeit eines indochinesischen politischen Uhrwerks — eines jener Uhrwerke, die 1954 in Dien Bien Phu und 1972 in Vietnam Schutzmächten die Stunde schlugen. Ausgelöst wurde das kambodschanische Uhrwerk an dem Tag, an dem Präsident Nixon seine Truppen nach Kambodscha einmarschieren ließ. Oder vielmehr noch einige Wochen früher, an jenem Tag,

an dem, mit oder ohne CIA-Mitwis- serschaft, die Regierung des Prinzen Sihanouk gestürzt wurde.

Graham Greenes „stiller Amerikaner“ scheint im Weißen Haus oft ebenso den Ton anzugeben wie in den parlamentarischen Körperschaften der USA. Die Ahnungslosigkeit und Kurzsichtigkeit der Entschei dung, nach Kambodscha zu marschieren, war so unüberbietbar, daß man sich ernstlich fragen könnte, ob der Präsident, der den Befehl dazu gab, und der Präsident, der nach Peking flog und den Krieg in Vietnam beendete, ein und derselbe Mann gewesen sind.

Kambodscha war noch im Frühling 1970 jenes Paradies mit kapitalistischen Schatten, das Vietnam zwanzig Jahre früher längst nicht mehr war. Prinz Sihanouk war alles eher als ein Kommunist. Er war vor dem Sturz der Prototyp eines realistischen Schaukelpolitikers, eines Schaukelpolitikers aus Realismus. Damit, daß er den Vietkong im Grenzgebiet zwischen Kambodscha und Vietnam agieren ließ und den kambodschanischen Teil des Ho- tschi-Minh-Pfades einfach nicht zur Kenntnis nahm, erkaufte er dem Rest seines Landes Ruhe von den Kommunisten.

Daß den Amerikanern eine solche Politik nicht gefallen konnte, ist nur zu begreiflich. Aber ein Präsident, der die Weichen bereits auf ein vietnamesisches Disengagement und auf einen weltpolitischen Big Bargain gestellt hatte, und ein Außenminister, der nicht den stillen Amerikaner, sondern Metternich zu seinem Vorbild erkoren hatte, zwei solche Männer hätten doch genug Weit blick haben können, um zu erkennen, daß genau jene Qualitäten Sihanouks als Schaukelpolitiker, die Amerikas Kriegsführung in Vietnam störten, in der nachfolgenden Periode Amerikas Interessen in einem zu hohen Preis befriedeten Indochina nur förderlich sein konnten. So naiv, anzunehmen, der indo chinesische Kommunismus werde nach einem Waffenstillstand in Vietnam ein stramm auf Westkurs getrimmtes Kambodscha respektieren, kann weder Nixon noch Kissinger gewesen sein.

Der Wahnsinn des amerikanischen Frühlingscoup von 1970 trägt jetzt die mehrfach prophezeiten blutigen Zinsen. Amerika hat sich in der Endphase seines vietnamesischen Engagements ein neues Vietnam eingehandelt. Die amerikanischen Generäle haben damals Kambodscha „gebraucht“, und jetzt haben die kambodschanischen „Beschützten“ und die amerikanischen „Beschützer“ einander auf dem Halse.

Leider sind auch rund sieben Millionen Kambodschaner in das Spiel der Mächtigen verwickelt. Ein Land, in dem, trotz bitterer Armut unter dem Drück eines frühkapitalistischen Wucherersystems, doch jeder irgendwie leben konnte, wurde zum Schauplatz eines Krieges, in dem nur das Ausmaß und die Publicity, nicht aber die Unmenschlichkeit geringer war als in Vietnam.

Der Sozialismus, den der Khmer Rouge dem kambodschanischen Volk verspricht, ist so fragwürdig wie die Freiheit, die ihm vorher angeblich verbürgt war; blieb die Freiheit jenen reserviert, die keinen Gebrauch von ihr machten, so folgen nun wohl die Leiden der totalen ideologischen Gleichschaltung. Wieder ist ein Land an jenem Punkt angelangt, wo ein Ende mit Schrecken immer noch besser erscheint als ein Schrecken ohne Ende. Jedes intensivere amerikanische Engagement für Lon Nol kann nur auf die Verlängerung des Schreckens hinauslaufen — ohne direkten amerikanischen Truppeneinsatz ist das Land nicht zu halten. Truppeneinsatz aber kommt, nicht nur aus US-innenpolitischen Gründen, nicht in Frage. (Er würde ein neues Vietnam bedeuten.)

Kambodschas Alternativen, falls es überhaupt welche hat, sehen anders aus. Amerika hat, wenn es in Indochina noch eine Wahl hat, vielleicht die zwischen einem etwas unabhängigeren oder einem völlig gleichgeschalteten Prinzen Sihanouk. Wenn es überhaupt jemanden gibt, der diesem Land die Unmenschlichkeit einer ideologischen Totalität ersparen kann, ist es Sihanouk. Sein politischer Spielraum wäre sicher größer, wenn er auf Grund eines Kompromisses mit den USA wieder an die Macht käme, als dann, wenn er auf den Bajonetten des Khmer Rouge in den Königspalast am Mekong einzöge. Aber für Alternativen in vorletzter Minute hatte Amerika bislang wenig

Sympathie, jedenfalls in Indochina. Amerika hat eine fatale Liebe zu starken Männern. Eine Liebe, die dazu führte, daß vielen Südvietname- sen die Wahl zwischen Präsident Thieu und dem nordvietnamesischen Regime (und auch vielen Koreanern die entsprechende Wahl) schwer wird.

Lon Nol wird nicht zuletzt mit dem Hinweis auf die sogenannte Domino-Theorie gehalten, aber diese Theorie ist längst obsolet. Eher ist zu erwarten, daß eine Prolongierung des Kampfes um Kambodscha Nachbarländer in Mitleidenschaft zieht. Erst in der Endphase des Vietnamkrieges wurde das bis dahin buchstäblich nur am Rande in Mitleidenschaft gezogene Kambodscha erfaßt — und in diesem Fall waren es die USA, die den noch stehenden Dominostein umstießen.

Die Situation in Laos ist einstweilen zu unübersichtlich, um beurteilen zu können, wohin dieses Land steuert — die Entwicklung verläuft hier lange nicht so dramatisch wie in Kambodscha, im Gegenteil, zumindest ein Kerngebiet ist unangefochten in der Hand der Regierung. Thailand hingegen spottet nach wie vor jeder Dominotheorie; wenn hier ein Vergleich am Platz ist, dann eher der von faulen Äpfeln, die einander anstecken.

Denn in Thailand steht die Regierungsmacht nur in jenen Gebieten echt in Frage, in denen sie noch nie gefestigt war, nämlich im Bergland der sogenannten nördlichen Stämme, dort, wo seit jeher ein „Norddialekt“ gesprochen wird, der ein waschechtes Laotisch ist, natürlich bei den Meos, denen mit dem Opiumgeschäft die Existenzgrundlage entzogen wurde. Das thailändische Kerngebiet ist von außen nicht bedroht. Wenn es bedroht ist, dann von innen, und auch hier nicht etwa von einer kommunistischen Untergrundorganisation, sondern eher vom Elend einer Agrarrevolution, die zur Konzentration des Grundbesitzes in den Kornkammern Zentralthailands und zur Freisetzung unübersehbarer Heere von Arbeitslosen führt. Wenn Thailand Gefahren drohen, dann von seinen sozialen Problemen her. Noch hat der indochinesische Kommunismus hier kaum Ansatzpunkte gefunden — Thailand ist außerordentlich widerstandsfähig gegen ausländische Einflüsse. (Und darin mit Einschränkung der Türkei vergleichbar, die ja auch ihre Kurden hat. Thailand geriet übrigens niemals unter Kolonialherrschaft.)

Es steht also nicht die „Freiheit in Indochina“ auf dem Spiel, und auch nicht die Freiheit von rund sechs Millionen Kambodschanern, die das, was wir unter Freiheit verstehen, nicht kennen, aber sehr wohl ihr überleben. Der Großteil Kambodschas, wahrscheinlich das ganze Land außer der Hauptstadt, ist fest in der Hand des Khmer Rouge. Amerika hat es 1970 denen ausgeliefert, vor denen Amerika es heute zu beschützen vorgibt.

Der Prinz Sihanouk, der früher oder später nach Phnom Penh zurückkehren dürfte, ist sicher nicht derselbe, der 1970 vertrieben wurde. Ob er in Peking ein chinesischer Satrap geworden ist oder Unabhän gigkeit bewahren konnte, ob er als aufgeklärter, nun auch den sozialen Problemen aufgeschlossenerer Herrscher oder als roter Diktator, ob er als echter Staatschef oder als Marionette anderer Kräfte zurückkehrt, kann nur die Zukunft lehren. Je länger es bis dahin dauert, um so mehr Leid bis dahin.

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