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Information plus Engagement

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Auf die umfassenden, vielbändigen Zusammenfassungen menschlichen Allgemeinwissens, genannt Enzyklopädien, kann der bekannte Satz angewendet werden, daß jede Generation die Weltgeschichte neu schreiben muß. Jede Generation braucht auch eine neue Enzyklopädie oder noch besser deren zwei oder drei, wie das schöpferische Nebeneinander der traditionsreichen deutschen Lexikongiganten Meyer und Brockhaus, den Herder nicht zu vergessen, beweist. Ihre Konkurrenz hat zweifellos die Entwicklung zu neuen Formen lexikalischer Wissensdarbietung vorangetrieben.

Nur fünf Jahre nach dem Start der mittlerweile über die Hälfte gediehenen Brockhaus-Enzyklopädie in 20 Bänden vollzog Meyer den nächsten Schritt. Der erste Band von Meyers Enzyklopädischem Lexikon in 25 Bänden ist nicht nur um 50 Seiten dicker und kommt trotzdem nur von A bis Alu statt bis Ate wie die Konkurrenz, er ist nicht nur, die Drucktechnik blieb ja in der Zwischenzeit nicht stehen, wahrscheinlich das bunteste Lexikon, das es je gab, wobei die Farbe der bibliophilen Anziehungskraft des Bandes sehr zustatten kommt. Der „Neue Meyer“ bedeutet auch einen Schritt auf einen neuen Weg — wobei freilich ein Kreis geschlossen wird.

Die lexikalischen Nachschlagewerke des frühen 19. Jahrhunderts waren in einem Ausmaß' politischgesellschaftlich engagiert, das man heute in weiten Kreisen als übertrieben polemisch empfände. Es folgte eine Phase, in der die deutschen Lexikonherausgeber den Kompromiß zwischen den Interessen aristokratischer und ökonomischer Oligarchien zu suchen hatten — gefolgt, im 20. Jahrhundert, vom Trend zur wert- und keimfreien Faktizität.

Das Bibliographische Institut, das nicht nur Meyers Lexikon, sondern auch den Duden und andere wichtige Nachschlagewerke herausgibt, suchte und fand einen Weg, der Zeittendenz zu etwas mehr Engagement entgegenzukommen, ohne Abstriche von der lexikalischen Ojektivität (wie immer man über diese denken mag) zu machen. Jürgen Mittelstraß leitet das Enzyklopädische Lexikon mit Betrachtungen über den Nutzen von Enzyklopädien ein, die sich partienweise wie ein Abschied von der „informierten Gesellschaft“ lesen — ein skeptischer, weiser Aufsatz, der Meyers Neuerung den Weg bereitet. Diese Neuerung wird vorerst allerdings noch etwas vorsichtig eingesetzt, im konkreten Fall, Band I, nach dem Mischungsrezept: 96 Prozent Information in der herkömmlichen, „jedes Engagement vermeidenden enzyklopädisch-lexikalischen Form“ (Mittelstraß), plus 4 Prozent persönlich vorgetragene Meinung.

Zu bestimmten Themen, im ersten Band neben dem einleitenden Beitrag zu den Abschnitten über Abendland (Friedrich Heer), Abstammung (Adolf Portmann) und Afrika (Imanuel Geiß), läßt der Verlag Autoren zu Wort kommen, die für das, was sie vertreten, mit ihrem Namen geradestehen. Polemisch im Sinne eines 150 Jahre alten Lexikons wird dabei nur Heer, dessen kritische Anmerkungen sich auf den Generalnenner bringen lassen, das Abendland habe sich von Anfang an als eine Einheit gegen ... verstanden und in der historischen Sottise gipfeln, John Foster Dulles habe versucht, „durch Genealogen“ seine Abstammung von Karl dem Großen nachweisen zu lassen. Wie immer man über Friedrich Heers Thesen denken mag, die Kontrapunktik zwischen der wertfreien Faktizität des Lexikonartikels und der Einseitigkeit einer vehement vorgetragenen Meinung wurde am Beispiel Abendland überzeugend realisiert.

Da Enzyklopädien, obwohl sich das Wort Enzyklopädie keineswegs vom Zyklopenhaften eines solchen Unterfangens herleitet, ebenso wie Flughäfen und Spitäler bereits im Moment ihrer Fertigstellung partiell überholt sind, werden während des Erscheinens einmal pro Jahr, also etwa in jedem dritten Band, Nachträge das gesamte bereits veröffentlichte Material auf den neuesten Stand bringen, ein weiterer, eigener Nachtragsband wird sodann zusammen mit einem großformatigen Atlas die neunte Auflage des großen Meyerschen Lexikons, und wohl die letzte im zwanzigsten Jahrhundert, endgültig abschließen.

Allerdings sollte man die Aktualität eines Lexikons nicht vergötzen. Denn die lexikalische Redaktionsarbeit — die hier erstmals durch elektronische Datenverarbeitung unterstützt wurde — besteht weniger im Ersetzen des Unrichtigen durch das Richtige als vielmehr des Unwichtigen durch das Wichtige sowie im Setzen neuer Akzente, neuer Prioritäten. Das Anschwellen der naturwissenschaftlichen und technischen Information, aber auch die Vertiefung historischer Erkenntnis, macht einerseits ein neues Lexikon unumgänglich notwendig, erzwingt aber anderseits auch einen unbarmherzigen Auslese- und Verknappungsprozeß.

Daher verlieren alte Lexika nicht ihren Wert; im Gegenteil, ein altes Lexikon im Haus oder gar deren mehrere erhöhen sowohl den Reiz als auch den Gebrauchswert eines neuen. Die Lektüre eines Stichwortes in verschiedenen, zeitlich auseinanderliegenden Enzyklopädien schärft das Bewußtsein für Veränderung und zählt zu den schönsten Spielarten des Schmökerns (Der Große Herder, 1935: „schmökern, das spielerische Kosten in Büchern ohne Absicht und Ziel“).

Legt man den Großen Meyer von

1902 und Meyers Enzyklopädisches Lexikon von heute nebeneinander, so stellt man etwa fest, daß der Text zum Stichwort Agrarpolitik von vier Zeilen auf mehr als eine Seite, zum Stichwort Agrarreform von null auf mehr als eine halbe Seite ausgeweitet wurde, anderseits, im Zuge der Eliminierung zeitbedingter Wertungen, auch die Bemerkung „schneidiger Wortführer der jesuitischen Reaktion“ im Artikel über Abraham a Sancta Clara verschwand. Die war allerdings auch in der Auflage von 1924 bereits getilgt. Wogegen die Information von 1902 über den Alldeutschen Verband, dieser habe „frei von jeder Parteipolitik und durchaus paritätisch ... lediglich nationale Ziele verfolgen“ wollen, den ersten Weltkrieg relativ unbeschädigt überstand; der heutige Meyer erkennt den Alldeutschen Verband korrekt als Propagierung eines aggressiven Nationalismus.

Lexika sind nun einmal zeitbedingte Information, sie müssen es sein — es mindert nicht ihren Wert. Im Gegenteil, dies gibt, nur scheinbar paradox, die Gewißheit, daß ein neues Lexikon seinen Wert behält — als Auskunft über Wissensstand und Urteile einer Epoche. Klassenkämpferisch gab sich etwa der Brockhaus von 1822: „Adel, der angeerbte, ist nach Kant, ein Rang, der vor dem Verdienste vorhergeht, und dieses auch nicht zur nothwendigen Folge hat... Von Schließen nannte ihn daher ein entbehrliches Trümmerwerk aus der Vorzeit... Adelsvorrechte setzen den ererbten Ruhm vor den erworbenen, und die Abkömmlinge großer Männer vor die großen Männer ...“ Der Meyer von heute informiert sachlich und wertungsfrei über die Abschaffung des Adels, allerdings nicht ganz vollständig, wenn er sagt, die Führung von Adelsprädikaten sei in Österreich „untersagt“ und „unter Strafe gestellt“: Es handelt sich hier um eine lex imperfekta, die eben mangels einer genaueren Strafbestimmung nicht angewendet werden kann. Die Entwicklung der lexikalischen

Formulierung in 150 Jahren läßt .sich auf die Formel „Von der Erzählung zur Aufzählung“ bringen. So wird die knappe, historische Information über Alexander den Großen (auch im neuen Meyer immerhin eine gute Seite) außerordentlich reizvoll ergänzt, wenn man die sachlich weniger verläßliche, aber schwungvolle Prosa liest, die Joseph Meyer in seinem 1839 begonnenen, 46 Bände starken Conversationslexikon unter diesem Stichwort bot.

Mancher stirbt zum zweitenmal, wenn er auch aus dem Lexikon verschwindet, so David Ritter von Abra-hamovicz, Vizepräsident des österreichischen Abgeordnetenhauses, der nur eine Auflage lang (Meyer 1902) lexikalisch lebte. Mancher wird lexikalisch umgebettet, so der jüdische Schriftsteller und Übersetzer Scha-lom Jakob Abramowitsch per Verweisungspfeil von seinem Platz Im ersten Band der siebenten Meyer-Auflage von 1924 auf eine Einreihung unter seinem Pseudonym

Mendele Moicher Sforim. Mancher schafft es überhaupt nicht, aufgenommen zu werden, so der früh verstorbene, in letzter Zeit in der Wertung doch gestiegene Maler Absolon (der allerdings Österreicher war). Dafür tauchen Vergessene, Verschollene, von der Geschichte Verdrängte aus der Versenkung, etwa Abraham ben David, Verfasser der „Einwendungen“ gegen Maimonides, dessen Renaissance er wohl die Aufnahme verdankt.

Hingegen bleibt ungeklärt, ob unter Abdeichen nun tatsächlich der Schutz tief gelegener Landstriche durch Deiche zu verstehen sei (Meyer, 1902, 1924) oder aber doch die Befreiung einer Commune von der Verpflichtung, bestimmte Deiche zu ei-halten, wie der Brockhaus von 1822 verrät — das Wort kommt nicht mehr vor. Hehres steht in der Enzyklopädie neben Trivialem, lexikalisches Perfektionsstreben ließ Trivialstes, etwa das Stichwort Abort, auf fünf technische Schnittzeichnungen anschwellen, so mündet bürgerliches Bildungsstreben immer breiter, in einem Delta strömender Informationsflüsse, in den alles umfassenden Wissensdurst der industriellen Leistungsgesellschaft.

Dabei verrät sich die Zeitbedingtheit lexikalischer Information oft schon in der Wortwahl, und mitunter gerät das eine oder andere ein wenig schief, etwa wenn Alkaios, im Meyer 1902 noch „Vorkämpfer der Adelspartei gegen die Tyrannen seiner Vaterstadt“ (wobei das Wort Demokratie peinlich vermieden wurde), 1924 noch immer „als Vorkämpfer der Adelspartei gegen die Tyrannen verbannt“, heute die Würdigung erhält: „Entstammte einem alten Adelsgeschlecht und war führend an den Parteifehden zwischen Aristokratie und aufkommender Demokratie beteiligt, weshalb er längere Zeit in der Verbannung leben mußte.“ Man erfährt, daß er Jubellieder über den Sturz der Tyrannen schrieb, leider aber nicht, welche Partei nun die der Tyrannen war und auf welcher Seite demnach Alkaios stand. Denn die Herkunft eines Mannes gibt ja bekanntlich keineswegs über seine Position Auskunft und ebenso bekanntlich standen auch auf der Seite der „aufkommenden Demokratie“ Männer, die alten Adelsgeschlechtern entstammten.

Aber der Verlag hat es sich Ja selbst zuzuschreiben, wenn man auf die unvermeidlichen, hier allerdings sehr seltenen Ungenauigkeiten stößt. Denn Nachschlagewerke, die so aussehen und sich so anfühlen, gehörten eigentlich verboten, weil sie ästhetisch-bibliophil anfällige Charaktere dazu veranlassen, unter einem unwiderstehlichen Zwang zu blättern, zu lesen, Pflichten zu versäumen, weiterzublättern, wieder zu lesen, Termine zu verpassen, stundenlang. Es ist nicht das abstrakte Wissen, das verführt, sondern dessen Darbietung als sprachlich-optische Einheit. Man kann sich in diesem ersten Band informieren, aber auch schauend verlieren, die Ästhetik der Landkarte — hier extrem weiterentwickelt — ist ja ein eigenes Kapitel.

Meyers Enzyklopädisches Lexikon ist für mich das umfangreichste, inhaltsreichste, dabei knappest formulierte, aber auch das schönste gegenwärtig greifbare Lexikon in deutscher Sprache. Ein knallroter Schutzumschlag verbirgt gnädig den ledernen Rücken mit Goldprägung, dieses Statussymbol des Bildungsbürgertums, dem bekanntlich augenblicklich keiner angehören will — leider.

Nur noch ein Wort über den Preis: Jeder Band kostet, bei Vorbestellung, 658 Schilling, für 732 Schilling pro Band bekommt man ein „Vorauslexikon“ geliefert, auf daß man nicht Jahre warten müsse, um auch unter R oder Z nachschlagen zu können. Das ist ein geringer Betrag, verglichen mit jenen 12 Kronen, die etwa 1905 für einen Band der 6. Auflage von Meyers großem Konversationslexikon zu entrichten waren. Komplette Lexika kosten eine Stange Geld, aber der Einzelband (vom neuen Meyer erscheinen drei pro Jahr) erscheint nicht nur preiswert, sondern sogar billig, denkt man an die Preise für Bücher ähnlichen Um-fangs, ähnlicher Ausstattung, ganz zu schweigen von der Sorgfalt lexikalischer Edierung.

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