6845152-1976_16_04.jpg
Digital In Arbeit

Innere Gärungen und keine Sicherheit

Werbung
Werbung
Werbung

Für den Mann auf der Straße ist unser etwas hochgespielter „Hochverratsfall“ ein Problem journalistischer Verantwortlichkeit und militärischer Disziplin, aber tatsächlich stehen wir da einem Ereignis gegenüber, das die Szene der Demokratie kurz und grell wie ein Blitz beleuchtet. Die Bedeutung dieses Falles übersteigt bei weitem den Rahmen des kleinen Österreich. Dem Amerikaner, der Ähnliches erlebt hat, erscheint dieses Problem als wahres Dilemma, dem er sich nicht entziehen kann und das er auch nicht zu lösen vermag. Wir auch nicht.

Ob bei uns tatsächlich kleinere oder größere militärische Geheimnisse verletzt wurden, interessiert uns jetzt nicht, ist doch hier ein Kernproblem der Demokratie am Tapet. Demokratie ist Volksregierung, die auf zwei Forderungen ruht: Mehrheitsherrschaft und politische Gleichheit. Der Bürger wählt, weil er mündig ist, und die Mündigkeit erreicht er mit 18, 19, 20 oder mehr Jahren. Das ist keine wissenschaftliche Feststellung, sondern eine Verfügung des Gesetzes. Der Bürger trifft Entscheidungen, die rational sein sollten und deshalb braucht er Informationen, ohne die der klügste Mensch, er wäre denn ein Hellseher, fällen kann. Die gewählte Regierung bestimmt nicht nur die Auslandsbeziehungen, sondern auch die Wehrpolitik, sie kontrolliert die Streitkräfte, schließt offene Verträge oder verpflichtet sich auch in geheimen Abmachungen. All dies macht sie im Auftrag des „Volkes“, worunter aber eine oder mehrere Regierungsparteien verstanden werden. Auch Oppositionsparteien können zu dieser Arbeit herangezogen werden.

Nun hat schon ein englischer

Autor, J. Holland Rose, in seinem Buch „The Rise of Democracy“ (1897) darauf bestanden, daß sowohl das Militärwesen als auch die Außenpolitik nur zum Teil der Wählerschaft mitgeteilt und erklärt werden können, denn der wirkliche oder potentielle Feind hört mit. Hier werden deutlich die Grenzen der Demokratie erreicht, und Rose glaubte auch, daß diese Sachlage unter Umständen der Demokratie zum Verhängnis werden könnte.

Wir wollen nun nicht die Worte Clausewitz' vergessen, daß der Krieg nur die Fortsetzung der Diplomatie mit anderen Mitteln ist, uns aber dennoch auf den militärischen Aspekt der Frage konzentrieren. Da der moderne Krieg durch rapide Entscheidungen und Bewegungen charakterisiert wird, ist eine sorgfältige Vorbereitung schon im „tiefsten Frieden“ angezeigt. Eine Geheimhaltung, erst nach Kriegsanfang als außerordentliche und undemokratische Einrichtung angesetzt, kommt heute nicht mehr in Frage. Man denke da an den „Blizkrieg“ und an den in unserem barbarischen Zeitalter der Dekadenz so häufigen „Überfall“ ohne feierliche Kriegserklärung. Geheimhaltung muß deshalb großgeschrieben werden.

Diese aber wird vor allem durch das Parteiensystem erschwert, denn bei häufigem Regierungswechsel müssen mehr und mehr Personen in die militärischen Geheimnisse eingeweiht werden, und schon deswegen entwickeln die Streitkräfte eine natürliche Scheu, ihre Pläne und den Sondercharakter ihrer Waffen Außenstehenden zu erläutern. Der Umstand, daß Armeen und Flotten finanziert werden müssen und spezifische Summen vom Parlament be-

willigt und im Budget aufscheinen sollen, macht die Sache nur noch heikler. Was aber bei uns neutralisierten Österreichern nur eine Fußnote ist, hat in manchen Ländern, die in kalten, lauen oder heißen Kriegen verwickelt sind, den Charakter einer Kardinalfrage: wie bringt man Demokratie mit dem Militärwesen und den Außenbeziehungen auf den gleichen Nenner?

Es fragt sich auch, ob der als mündig erklärte Bürger (ein ebenso seltener Vogel wie der berühmte „mündige Christ“) von Geheiminformationen wirklich profitieren würde — außer er wäre ein Experte, der aber dann doch nur wieder eine Stimme unter Millionen anderen hat. Da ist als eines der wichtigsten Merkmale unserer Zeit der stets wachsende Abgrund zwischen Scita und Scienda, zwischen dem, was tatsächlich (auch von den „Gebildeten“) gewußt wird und dem, was gewußt sein sollte, um rationale Entscheidungen zu treffen. Vielleicht kann der Bürger in der direkten Demokratie des Kantons Glarus von nur 39.000 Einwohnern in der „Landesgemeinde“ noch vernünftige Urteile fällen. Auch hat seine „Stimme“ dort noch wirkliches Gewicht. Doch was geschieht in einem Land wie die Vereinigten Staaten, wo selbst ein Krieg — in Vietnam — demokratisch auf Grund der öffentlichen Meinung geführt wurde? Hier hat man einen wahren Dolchstoß gegen die Armee geführt. Ich war fünfmal in Vietnam, hielt Vorträge darüber in den USA und sprach vor einem Publikum mit felsenfesten Überzeugungen und erschreckender Ignoranz. Und man erinnere sich da an die große Studentendemonstration in der Universität von Kent (Ohio), die vier Todesopfer

forderte. Dieser Protestmarsch fand anläßlich der Teilinvasion von Kambodscha statt, aber gerade der Sieg der „Roten Khmer' hat in den ungeheuerlichsten Grausamkeiten ohne Parallelen in der Weltgeschichte geendet. Sind also diese idealistischen, aber völlig irregeleiteten Studenten für die Sache der „Roten Khmer“ umgekommen? Kein Zweifel! Doch dies beleuchtet magisch das Diktum Jacob Burckhardts aus dem Jahre 1878: „Seitdem die Politik auf innere Gärungen der Völker gegründet ist, hat alle Sicherheit ein Ende.“ Diese Gärungsprozesse haben vorwiegend emotionellen Charakter, da selbst bei größter Informationsfreiheit die Tatsachen von den Vielen nicht mehr interpretiert werden können, und die sehr subjekiven Kommentatoren lediglich Papageien ohne Federn heranziehen. Mit der Freigabe militärischer (und außenpolitischer) Geheimnisse wäre also auch der Demokratie nicht gedient.

Kommen wir mit noch einer Erwägung zur „Ortsbestimmung der Gegenwart“ in unserem Atomzeitalter! Man kann sich auch ohne üppige Phantasie leicht vorstellen, daß morgen früh um 5.15 Uhr sechs Herren, davon drei in Uniform, Mister General Ford im Weißen Haus aufwecken und ihm nach einem Bericht, was in der Nacht vorgefallen ist, erklären, daß er 180 Sekunden Zeit habe, um sich zu entscheiden, ob er auf einen Knopf drücken oder nicht drücken wolle — kaum Zeit also, um die Redakteure der „New York Times“, den Kongreß oder die Gal-lup-Poll zu befragen. Schon heute also hat der Präsident der USA mehr „undemokratische“ Macht als je ein ägyptischer Pharao oder ein mongolischer Großkhan. Vielleicht gehören unsere westlichen politischen Systeme sämtlich radikal revidiert und auch nicht minder unser politisches Denken. Wie sagte doch ein Wiener Professor? „Die meisten von uns sind nicht Zeitgenossen ihrer eigenen Zeit.“ Stimmt auffallend!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung