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Ins dritte Jahrhundert

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Das große Fest ist gefeiert, die Segelschiffe aus fernen Ländern sind wieder davongerauscht, nachdem die Besatzungen sich davon überzeugt hatten, daß man in New York nicht regelmäßig bestohlen, ausgeplündert oder überfallen wird, wie das viele in Interviews mit einigem Erstaunen zugaben.

Das große Ereignis dieses 200. Geburtstages der USA waren aber nicht die bunten Fregatten aus aller Herren Länder, die Feuerwerke, die abends den Himmel von New York bis San Francisco erhellten und angeblich 250 Millionen Dollar verschlungen haben — es war vielmehr die veränderte Einstellung der Menschen zueinander. Arm und reich, schwarz und weiß, sie alle feierten in fröhlicher Selbstsicherheit miteinander, als ob es keine Gegensätze und Spannungen, als ob es nichts Trennendes mehr gäbe. Nicht irgendeine Autorität nahm die Huldigungen zum Geburtstag entgegen. Jeder einzelne der über zweihundert Millionen Amerikaner hatte Geburtstag, was CBS, das große Fernsehnetz, in seinen Sendungen sehr treffend mit „In celebration of us“ überschrieb. Und nachdem es „ihr“ Geburtstag war, fanden die Menschen zueinander wie selten zuvor, so daß bereits wieder von den Medien ein neuer „Geist“ verkündet wurde, der „Geist des 4. Juli 1976“, der dem Patriotismus, dem Zueinanderfinden und dem Selbstbewußtsein neuen Auftrieb verliehen haben soll.

Menschen tanzten in den Straßen, sangen patriotische Lieder und Nationalhymnen bei einer bemerkenswert niedrigen Zahl von Unfällen und Gesetzesübertretungen. In ungewöhnlicher Selbstdisziplin wurden Verkehrsregeln beachtet, so daß New York ein einziger Ballsaal für Millionen seiner Einwohner und für Millionen von Fremden wurde.

Was aber dem gelernten New Yorker oder Amerikakenner besonders auffiel: Das war kein programmiertes Fest. Wohl hielt der Präsident in Philadelphia, wo 1776 die Unabhängigkeit von England proklamiert wurde, eine Festrede.

Diese Rede war aber mehr ein historischer Bericht als der Mittelpunkt oder die Inspiration des Fe-

stes, was wohl zum Teil auf die mangelnde Fähigkeit des Präsidenten zurückzuführen ist, zu inspirieren und auszustrahlen, zum anderen aber den völlig dezentralisierten Charakter dieses Festes zum Ausdruck brachte. Wohl waren die großen Shows, wie „Operation Sail“ in New York, oder das gigantische Feuerwerk in Washington und die historische Feier

in Philadelphia gewissermaßen Höhepunkte. Aber teilgenommen hat die Bevölkerung vor allem an den lokalen Veranstaltungen in Millionen großer und kleiner Gemeinden — an den Rodeos im Westen, wo die Cowboy-Tradition das Leben prägt, an den historischen Veranstaltungen im Osten, wo ganze Schlachten aus den Befreiungs- und .Bürgerkriegen in alten Uniformen und mit stilechten Waffen heraufbeschworen wurden, und nicht zuletzt an den farbigen Nationalfesten der Minderheiten: der Italiener, Iren, Griechen, Polen, Deutschen und all der anderen. Sie feierten sich selbst, ihre Tradition, ihr Verhältnis zum Bundesstaat und seiner Vergangenheit, aber als Bestandteile und Bausteine dieser Union, und nicht zur Verherrlichung einer Autorität. Sie verkörperten damit die demokratische Tradition dieses Landes, in dem die Gewalt vom Volk ausgeht und nicht umgekehrt. Es war daher ein spontanes Fest, wenn auch Tausende von Komitees und Organisatoren diese „Birthday-Party“ von langer Hand vorbereitet hatten. Denn jede Gemeinde, jede Einheit feierte für sich „in celebration of us“.

Nun wird die nahe Zukunft schnell darüber Auskunft geben, ob dieser „spirit of the 4th July 1976“ ein einmaliger euphorischer Ausbruch war oder die Vollzugsmeldung, daß die Nachwehen Vietnams und Watergates überwunden sind. Daß die USA das 200. Jahr ihres Bestandes in einem Wahljahr feierten, mag in diesem Zusammenhang Bedeutung haben. Vielleicht kündigt sich mit dem meteorhaften Aufstieg des demokratischen Kandidaten aus dem Süden, Jimmy Carter, bereits eine neue Ära an, die imstande ist, konservative Grundhaltung mit neuen Initiativen zu verbinden, die aber trotz konservativer Einstellung doch progressiver als die Vergangenheit zu werden verspricht, weil man den angestrebten Consensus nicht mit den Techniken und Einrichtungen von gestern erreichen kann.

Und wenn man auch immer noch nicht weiß, was Jimmy Carter eigentlich will und wofür er steht,

gewinnt man doch das Gefühl, daß die Bevölkerung mit einem neuen Mann tanzen gehen will, gleichgültig, ob er nun ein guter Tänzer ist und ob er genau weiß, wie er seine Schritte zu setzen hat.

So wird diese Zäsur vom 4. Juli 1976 sicherlich dem Kandidaten des Neuen Auftrieb geben und die Situation des republikanischen Kandidaten — es sieht trotz allem nach Ford aus — psychologisch belasten.

Nach neuem Beginn sehnt sich offenbar auch die westliche Welt, die durch Könige, Königinnen und andere Staatsoberhäupter repräsentiert war. Sie würde gerne amerikanische Initiativen aufgreifen und verarbeiten, aber das meiste von dem, was Washington zuletzt vorzuschlagen hatte — und es war oft recht Intelligentes darunter — wurde im Konflikt zwischen Regierung und Kongreß abgewürgt. Daß Carter Konsultationen mit den westlichen Alliierten verspricht, ist nichts Neues, aber es hört sich gerade jetzt gut an und man darf den Einfluß des westlichen Auslandes auf amerikanische Wahlen nicht unterschätzen. Selbst Henry Kissinger erkennt, daß ihn eigentlich von Carter weniger trennt als von Reagan. Er schluckt Carters Angriffe ohne Beschwerden. Vertreter einer „einsamen Außenpolitik“ zu sein, klingt nicht so schlecht. Ob sich Kissinger Hoffnungen darauf macht, auch noch einem dritten Präsidenten als Außenminister zur Seite zu stehen? Kaum. Ein Mann von seiner Intelligenz kennt die Kräfte, die die Welt bewegen. Aber Kissinger möchte vor der Geschichte gerechtfertigt dastehen, er möchte als geachteter Wissenschaftler konsultiert werden und recht gehabt haben.

So scheint die große „Birthday-Party“ dem Land neuen Auftrieb gegeben zu haben. Man blickt zurück, man vergleicht und kommt zur Einsicht, daß nicht alles so schlecht ist wie es dargestellt wird, und daß Vergleiche mit anderen Großmächten nicht unbedingt zuungunsten der USA ausfallen. Noch ist das Land vital und in seinen Elementen gesund. Warum nicht einmal auch hoffnungsfroh in die Zukunft, ins dritte Jahrhundert blicken?

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