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Inseln im Fallout

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Wer den Film „Meuterei auf der Bounty“ gesehen hat, mag beim Verlassen des Kinos darüber nachgedacht haben, wie die Geschichte weitergegangen sein könnte. Der Ausgangspunkt ist bekannt: 1790 setzt die Besatzung des britischen Schiffes „Bounty“, die von ihrem Kapitän in einem selbst für jene nicht zimperliche Zeit ungewöhnlichen Ausmaß geschunden wurde, diesen und ein paar Besatzungsmitglieder, die ihm die Treue hielten, 1h einem Rettungsboot aus — versehen mit Vorräten und Navigationsgerät.

Der Kapitän und seine Begleiter konnten sich retten. Die ,3ounty“ mit den Meuterern blieb verschollen. Viele Jahre später erst entdeckten Seefahrer deren Nachkommen. Die Meuterer waren, nachdem sie sich ihres Kapitäns entledigt hatten, nach Tahiti zurückgefahren, hatten dort eine Schar wagemutiger Mädchen an Bord genommen und mit ihnen das unbewohnte, nicht einmal fünf Quadratkilometer große, 1767 erstmals von dem britischen Seekadetten Pitcairn gesichtete Inselchen namens „Pitcairns Island“ kolonisiert. Dort leben ihr Nachfahren, eine signifikante europäisch-tahitische Rassenmischung, noch heute.

Sie bekennen sich zum Adventi-stenglauben und könnten von ihrem bißchen Viehzucht, Fischfang und Ackerbau in Frieden weiterleben von Generation zu Generation — hätte sie die umbarmherzige Außenwelt nun nicht doch noch eingeholt.

Mururoa liegt etwa auf halbem Weg von der Ostküste Australiens zu jenem Punkt der Westküste Südamerikas, wo Chile und Peru zusammentreffen. 900 Kilometer weiter westlich liegt Pitcairn, somit am Rande der Gefahrenzone. Briten und Amerikaner benützen die von Großbritannien abhängige Insel als Stützpunkt zur Beobachtung der französischen Atomexperimente, gegen die heuer, im Gefolge der Stockholmer Umweltschutzkonferenz, erstmals ein weltweiter Protest laut wurde.

Pitcairn wurde selbstverständlich nicht um sein Einverständnis gefragt und Pitcairn hat auch nicht gegen die Versuche protestiert. Nicht, weil man mit diesen einverstanden wäre, sondern deshalb, weil der damals 70 Jahre alte John Christian, der oberste Verwaltungsbeamte in der „Hauptstadt“ der Insel, die zwar Adamstown heißt, aber bestenfalls ein Dorf ist, der Auffassung war, eine Protestnote, die den Willen von 85 Menschen ausdrücke, werde von niemandem zur Kenntnis genommen werden. Für eine leere Geste aber war man sich in Pitcairn zu gut.

Nach jeder Testrunde von Mururoa sind in Pitcairn rätselhafte Hautkrankheiten an der Tagesordnung. Da die Einwohner von Pitcairn seit der Einstellung der Atomversuche in der Atmosphäre für Nichtfranzosen und NichtChinesen die letzten Menschen auf diesem Globus sind, an denen mögliche Auswirkungen einer 900 Kilometer entfernten Atomexplosion studiert werden können, tummeln sich nach jeder Testexplosion britische und amerikanische Wissenschaftler auf Pitcairn, aber niemand auf Pitcairn bekommt ein Untersuchungsergebnis zu Gesicht. Die Äußerungen der französischen und der angelsächsischen Beobachter widersprechen einander; während die Franzosen erkären, vier Tage nach einem Versuch sei keine Radioaktivität mehr feststellbar, machen die Amerikaner dunkle Andeutungen, genauerer Informationen würdigt die Pitcairner auch von dieser Seite niemand.

Immerhin wissen sie, daß die Gelgerzähler, die von der Royal Air Force fallweise in Pitcairn aufgestellt werden, normalerweise höchstens alle neun Sekunden ticken, sich nach H-Explosionen auf Mururoa aber wie wildgewordene Weckeruhren benehmen.

Dabei haben es die Pitcairner viel besser als die französisch verwalteten Insulaner im Umkreis von Mururoa, die von französischen Streitkräften hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt und als total rechtlos behandelt werden. Ihre Gesundheit wird streng überwacht — aber das Ergebnis wandert in französische Panzerschränke, und kein Nichtfranzose kann diese Inseln betreten. Die Insulaner leben von den Franzosen, ihre Fischereiwirtschaft ist zusammengebrochen, wovon sie leben werden, wenn Paris befindet, weitere Versuche seien nicht nötig, wissen sie nicht.

Niemand weiß, welche Spätfolgen die atomare Verseuchung dieser insularen Biotope nach sich ziehen kann. Mag sein, daß die Wissenschaftler mit Interesse darauf warten.

Niemand weiß schließlich auch, in welcher Weise sich genetische Schädigungen durch radioaktiv stimulierte Mutationsraten in derartigen Mini-Populationen (Pitcairn hat weniger als 100 Einwohner) innerhalb mehrerer Generationen potenzieren.

Und schließlich weiß auch niemand, auf welchen Rechtsgrundsätzen solch totales Verfügen über eine schutzlose, rechtlose, stimmlose Bevölkerung basieren könnte. Aber danach fragt auch niemand. Eine dort, wo es ihr darauf ankommt, in die Feinheiten ihrer parlamentarischen und juristischen Spielregeln versenkte Kulturnation hat wohl hier ihren blinden Fleck.

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