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Integraler Figaro

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Die Grazer Oper ist unter Intendant Dr. Nemeth auf dem besten Weg, ihren alten Ruf wiederzugewinnen. Mehr noch: sie beginnt sogar, Geschichte zu machen. — Die an sich erfreuliche Tatsache, daß der Ex-Grazer Ernst Märzendorfer trotz seiner internationalen Verpflichtungen nun schon zum zweiten Mal die Zeit findet, eine Mozart-Oper in seiner Heimatstadt einzustudieren, hat nicht nur eine weitere spürbare Hebung des Aufführungsniveaus, vor allem im Orchester, bewirkt. Sie hat darüber hinaus einen beachtenswerten musikgeschichtlichen Akzent gesetzt, der die Grazer Oper gewissermaßen als Uraufführungsstätte eines ganz neuen — oder wenn man will — ganz alten „Figaro“ hervorhebt. Es war, genau genommen, eine Weltpremiere der gereinigten „Figaro“-Fassung auf der Grundlage der wissenschaftlich erarbeiteten Forschungsergebnisse, die durch die im Dezember 1973 erscheinende neue Mozart-Gesamtausgabe erstmals vorgelegt wird.

Die wichtigsten Veränderungen gegenüber der herkömmlichen Praxis sind folgende: es gibt zwei neue Arien der Susanne, die Mozart erst nach der Uraufführung hinzukomponiert hatte (beide erklangen bei der Grazer Premiere zum ersten Mal); die eine der beiden — mit einer reizvollen ^Begleitung durch zwei Bas-sethörner — war bislang von der Forschung für eine Arie der Gräfin gehalten worden. Durch genauen Vergleich aller Unterlagen konnte mit absoluter Sicherheit festgestellt werden, daß diese Arie zur Partie der Susanne gehört. Die fast nie gespielten Arien der Marzelline- und des Basilio im vierten Akt werden nicht mehr unterschlagen; das Contanuo wird durch Cello und Baß vervollständigt; die Gräfin ist gemäß dem Mozartschen Material ein hoher dramatischer Sopran, Susanne hingegen ein tiefer lyrischer. Der erste Teil des vierten Aktes spielt nicht wie bisher im Park, sondern — wie bei Mozart und Da Ponte — in einem „cabinetto“ was wesentlich logischer ist. Vor allem aber hat die Aufführung sämtliche bisher mitgeschleppten Retuschen und falschen Analogieschlüsse bei der Wiederkehr eines Themas beseitigt.

So viele Änderungen — und noch dazu die hochinteressante, realistische und schlagkräftige Ubersetzung Walter Felsensteins — wirken allerdings ein wenig ungewohnt. Da es sich um eine mit wissenschaftlicher Genauigkeit erstellte, absolut integrale Wiedergabe der musikalischen Form des Werkes handelt, ist der einzige Nachteil für das Publikum, deren Dauer von fast dreieinhalb Stunden. Unnötig zu sagen allerdings, daß der Genuß dieser Stunden erheblich ist: der für Graz geradezu sensationelle, lichte Mozart-Klang des Orchesters, den Märzendorfer zu erreichen vermag, die unwahrscheinliche Präzision im Orchestergraben wie auf der Bühne, die vibrierende Spannung und das prik-kelnde Temperament im Musikalischen wie im Szenischen sprachen für das erstaunliche Niveau dieser Produktion.

Wolfgang Webers Inszenierung bemüht sich, das revolutionär-kritische Element des Textes dann und wann ins Spiel zu bringen, das Bühnenbild von Peter Heyduck beschränkt sich auf hübsche Andeutungen von Schauplätzen. Der Premiere in deutscher Sprache folgt eine zweite in italienischer. Das Leitungsteam bleibt gleich, es ändern sich nur die Darsteller. In der deutschen Premiere beeindruckten vor allem Gottfried Hornik als Figaro und Norma Newton als Susanne.

Aufführungskapital weiß Intendant Nemeth auch aus einem zweiten — berühmt gewordenen — Grazer Kapellmeister zu schlagen: Miltiades Caridis, Jahre hindurch an der Grazer Oper tätig gewesen, kam für kurze Zeit in die Stadt seiner künstlerischen Lehrjahre, um Bizets „Carmen“ neu einzustudieren. Auch hier ging vom Pult die eigentliche Faszination einer spannungserfüllten, von leidenschaftlichem Temperament genährten Interpretation aus. Das Denkwürdige aber ist die — selbst an Raymond Rouleaus berühmten Pariser Inszenierung gemessen — hinreißende Personenführung durch Regisseur Paul Hager. In der Form eines fulminanten Straßentheaters wird die Handlung durch eine Fülle glänzend erfundener Details bereichert, die indessen nicht ablenken, sondern stets in Kausalzusammenhänge eingebunden werden. Wie es denn überhaupt dem Regisseur darum geht, logische Verknüpfungen her- und darzustellen. Mit monströsen dramaturgischen Bocksprüngen wie dem Auftauchen des Escamillo in der Schmugglerschlucht wird allerdings auch Hager nicht fertig: er läßt den Torero eben in Public relations machen und Werbegeschenke verteilen. Großartig aber ist der letale Ausgang von Carmens und Joses wechselhaften Beziehungen: das nicht einmal besonders dämonische, aber sehr hübsche Karrieremädchen (die ausgezeichnete Gertraud Eckert) und der fast biedere, ein wenig bürokratische Sergeant (Jose Maria Perez) steigern sich zu einem beinahe monumentalen Schicksalsvollzug, in dessen Verlauf Carmen wie in Trance und doch in einer existentiellen Entscheidung auf das Messer Don Joses zuschreitet. Die Dekorationen Wolfram Skalickis waren diesem meisterlichen Regiekonzept durchaus ebenbürtig.

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