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IRA immer mehr isoliert: Auch Dublin fordert Wiedervereinigung

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Jeden Samstag, wenn die Nordirin Betty Williams ihren Briefkasten leert, weiß sie mit Sicherheit einen ganz bestimmten Brief unter ihrer Post: Einen Brief voller Haßtriaden, den der Verfasser mit Blut unterzeichnet und der immer mit dem selben Satz endet: „Eines Tages erwische ich dich.“ Erwischt hat es die Friedensnobelpreisträgerin von 1977 freilich schon mehrmals. Bei einem Bombenanschlag zerplatzte das Trommelfell in ihrem linken Ohr, bei einer Veranstaltung wurde sie von einer aufgewiegelten Menge bewußtlos geschlagen, wüste Beschimpfungen bei ihrer Arbeit für den Frieden in den Straßen von Belfast gehören zur Tagesordnung. Eine Frau kämpft für den Frieden und wird bekämpft - von jenen, die der Bürgerkrieg offensichtlich schon soweit gebracht hat, daß sie den Frieden nicht mehr wollen, sondern nur noch mit dem Krieg leben können.

Betty Williams hat sich nicht einschüchtern lassen. Sie, die Angehörige der katholischen Minderheit in Nordirland, die mit der protestantischen Mehrheit seit Jahren einen der blutigsten Bürgerkriege der Neuzeit ausficht, will die Aussöhnung dieser beiden verfeindeten Gruppen erreichen. Erste Schritte dazu waren bereits erfolgreich. Denn die „peace people“, eine Friedensbewegung, die sie zusammen mit ihrer Mitstreiterin Mai-read Corrigan 1976 in Belfast gründete, hat nicht nur in Nordirland, sondern in der ganzen Welt ein gewaltiges Echo ausgelöst. Höhepunkt der internationalen Anerkennung war die Verleihung des Friedensnobelpreises an die beiden Frauen.

Begonnen hat alles am 10. August 1976. In Anderstown in Belfast wurde Betty Wüliams Augenzeugin eines Feuergefechtes zwischen IRA-Terrori-sten und britischen Soldaten, in dessen Verlauf drei Kinder ihr Leben lassen mußten. Zusammen mit der Tante dieser Kinder, Mairead Corrigan, organisierte sie daraufhin einen Friedensmarsch, an dem sich spontan 10.000 Frauen beteiligten. Die Friedensbewegung „peace people“ war geboren.

Heute zählt diese Bewegung rund 100.000 Mitglieder, wenn Betty Williams auch zugeben muß, das davon nur etwa 7000 aktiv seien. Dafür hat

Frau Williams allerdings eine Erklärung: „Von den 1,4 Millionen Nordiren ist der Großteil längst in politische Apathie versunken.“

Dennoch scheint dieser Minderheit der Aktiven der „peace people“ Bedeutendes gelungen zu sein: Der politische Terror in Nordirland ist spürbar zurückgegangen. Nach regierungsamtlichen britischen Angaben fiel die Zahl der Todesopfer von 295 im Jahre

1976 auf 112 im vergangenen Jahr. Die Gewalt hat abgenommen - ein Verdienst der „peace people“? Ja und nein. Daß die Zahl der Terroropfer gegenüber 1976 um weit mehr als die Hälfte, die Zahl der Explosionen um ziemlich genau die Hälfte, der Schießereien um ein Drittel und der „politischen“ Fälle von Bankraub gar auf ein Achtel des Vorjahres zurückgegangen ist, bleibt eine Tatsache, die sicherlich zu einem nicht unbedeutenden Teil dem Engagement der „peace people“ zugeschrieben werden kann. Politische Beobachter der. nordirischen Bürgerkriegsszene sehen die ganze Entwicklung allerdings nüchterner: Sie meinen, daß die Kampfpause in erster Linie darum entstanden sei, weil sich die IRA in dieser Zeit eine neue Organisation zugelegt habe.

Ein zweites ist hinzu gekommen: Die Haltung der neuen Regierung in der

Republik Irland, die zusammen mit den anderen im Parlament vertretenen Parteien wieder ihre Forderung nach der Wiedervereinigung der Insel aufgestellt hat, was beinahe hysterische britische Reaktionen ausgelöst hat. Womit sich aber auch die IRA einer neuen Situation gegenübersieht: Sie ist jetzt nicht mehr die einzige Organisation, die für sich das Monopol in Anspruch nehmen kann, die Wiedervereinigung Irlands zu fordern! Dieser Wechsel in der politischen Haltung Dublins mußte auch in der IRA einen Umdenkprozeß auslösen. Schützenhilfe hat die neue irische Regierung unter Jack Lynch übrigens auch von der katholischen Kirche erhalten. Der neue Erzbischof von Armagh und Primas von Irland, Thomas O'Fiach, wurde von der britischen Presse bei seiner Ernennung als „Befürworter der irischen Einheit“ und „enthusiastischer Anhänger der traditionellen irisch-republikanischen Kultur“ bezeichnet. Betty Williams stimmt dieser Beurteüung zu, ist aber keineswegs wie die britische Presse der Ansicht, daß die Berufung O'Fiachs deswegen „umstritten“ gewesen sei: „Im Gegensatz zu den nordirischen katholischen Bischöfen steht der Primas unserer Friedensbewegung positiv gegenüber. Er ist ein Mann mit sehr nationalistischen Tendenzen und er will ein vereinigtes Irland sehen, aber keine durch Blut vereinigte Insel.“

Kein Wunder, denn der Erzbischof von Armagh und Primas von Ganz-Ir-land kennt nach eigenen Angaben persönlich mindestens zwanzig Familien, die Angehörige durch den Terror verloren haben, und so wie es ihm geht, geht es den meisten Iren. Er fordert deshalb auch unumwunden eine Absichterklärung der Londoner Regierung über einen britischen Truppenabzug aus Ulster, denn eine solche Absichtserklärung könne die festgefahrenen Bemühungen um eine politische Lösung des Nordirland-Konfliktes wieder in Gang bringen. Das sind Aussagen, die dem Primas von Irland schon die Titulierung „Erzbischof der IRA“ einbrachten. Bezeichnend allerdings auch, wer diese Formulierung in die Welt setzte: der nordirische protestantische Extremist Pastor Ian Paisy!

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