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Irregeleitete Sowjetjuden

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Gibt es Hunderte oder bereits Tausende Sowjetjuden, die, in Budapest gelandet, nicht nach Israel auswandern wollen? Das ungarische Außenministerium spricht von einigen hundert. Viele haben bereits Visaanträge nach Österreich oder in die Bundesrepublik Deutschland gestellt.

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Gibt es Hunderte oder bereits Tausende Sowjetjuden, die, in Budapest gelandet, nicht nach Israel auswandern wollen? Das ungarische Außenministerium spricht von einigen hundert. Viele haben bereits Visaanträge nach Österreich oder in die Bundesrepublik Deutschland gestellt.

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Vor etwa einem halben Jahr hat eines der wenigen national-extremistischen Propagandablätter Ungarns seine Leserschaft mit der Nachricht beunruhigt, die Regierung sei dabei, Sowjetjuden mit der Begründung im Lande anzusiedeln, Ungarn habe 1944 mehr als 600.000 seiner Bürger jüdischer Abstammung den deutschen Nazis ausgeliefert. Diese Meldung erwies sich als falsch. Umso mehr überraschte dann vor drei Wochen die Ankündigung Außenministers G£za Jeszenszky, daß Ungarn „mehreren hundert sowjetischen Juden Aufenthalt gewährt, die nicht die Absicht haben, weiter nach Israel zu reisen, beziehungsweise die von dort bereits zurückkehrend in andere westliche Länder auswandern wollen".

Dieser Erklärung folgte betretenes Schweigen. Beim Rat Ungarischer Juden wollte man lediglich von zwei solchen Fällen wissen. Die Ausländerbehörde gab zuerst vor, von der Angelegenheit lediglich aus der Tagespresse erfahren zu haben.

Später hieß es, in den ihnen zur Verfügung stehenden 24 Stunden seien „einige Auswanderer" dabei, in Budapest verschiedene Botschaften zwecks Einreichung von Einreiseanträgen aufzusuchen. Der Sprecher des Außenministeriums verschloß sich jedweder Auskunft. Inoffiziell hieß es allerdings im Ministerium, in Wirklichkeit handle es sich nicht um Hunderte, sondern bereits um einige Tausende sowjetischer Juden, die für die Zeit ihres Aufenthaltes in Ungarn in den leer gewordenen Kasernen der Roten Armee untergebracht werden. Dies müsse aber streng geheim bleiben, zumal die ungarischen Behörden Schwierigkeiten hätten, die Sicherheit der Betroffenen zu garantieren.

Mittlerweile haben die Behörden weitaus mehr Schwierigkeiten als nur die der Garantie der ausreichenden Sicherheit. Gruppen junger ungarischer Juden, darunter auch Zionisten, sind mit christlichen Organisationen dabei, zur Versorgung der Wartenden beizutragen. Ihre Zahl erhöht sich genauso rasch wie die der bei der deutschen und der österreichischen Botschaft eingereichten Visaanträge.

Viele der Betroffenen beklagen sich: Es sei ihnen noch zu Hause versichert worden, daß Deutschland sie aufnehme. In der Taust die Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich zur wohlwollenden Prüfung der Einreisegesuche sowjetischer Juden bereit, vorausgesetzt, sie werden in der Sowjetunion eingereicht. Österreich, das für viele die zweite Möglichkeit darstellt, betrachtet sich nicht als Einwanderungsland. Das UN-Hochkommissariat für Flüchtlingswesen will mit den Sowjetjuden nichts zu tun haben; für diese Organisation handelt es sich um Menschen, die ihr Land auf legalem Wege als Auswanderer verlassen haben.

Das ungarische Außenamt ist dabei, Emissäre nach Bonn zu entsenden, deren Erfolgschancen allerdings recht gering sind. Die Deutschen sehen keinen Grund zur Änderung ihrer Einwanderungsvorschriften und neigen dazu, die Frage zu stellen, warum sich Budapest zu Schritten entschließt, für deren Folgen es nicht im geringsten finanzielle Rückendeckung hat.

Die Flüchtlingswelle überleben

Die Ohnmacht der ungarischen Regierung in puncto humanitärer Hilfe ist freilich nicht neu. So hatte neulich Innenminister Boros nur einen verzweifelten Seufzer übrig, als er von seinem Wiener Amtskollegen Lösch-nak auf die Notwendigkeit aufmerksam gemacht wurde, wirksame Vorbereitungen für die bevorstehende Flüchtlings welle aus der UdSSR nach Verabschiedung der neuen Paßgesetze zu treffen: „Das kann man höchstens überleben - oder auch nicht."

Niemand weiß, wer für die Irreleitung sowjetischer Juden verantwortlich ist. Fest steht aber, daß die ganze humanitäre Aktion leicht ihren Sinn verlieren kann, wenn diese Menschen für längere Zeit in Ungewißheit gehalten und dazu noch zur Untätigkeit verurteilt werden.

In Ungarn verweist man nämlich auf die Verdoppelung der Arbeitslosenzahl in den vergangenen drei Monaten auf nunmehr insgesamt 150.000. Ungarn dürfte als Einwanderungsland also nicht in Frage kommen.

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