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Israel zwischen Exil und Erlösung

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„Verläßlich bist Du, Herr unser Gott, und verläßlich sind Deine Worte; nichteineswird trügen, denn Du bist ein verläßlicher (und barmherziger) Gott, gepriesen seist Du..

Mit diesem vor jeder rituellen Prophetenlesung feierlich rezitierten Segen geben die Juden ihrem Glauben Ausdruck, daß die Verheißungen der Bibel über die Enderlösung, „über die kommende Erfüllung der Menschheit mit Gotteserkenntnis - gleichwie das Meer von Wasser voll ist“ (Jes 11,9; Hab 2,14), ganz in Erfüllung gehen, daß keine von ihnen trügen wird.

Das Problem, das uns in diesen Tagen beschäftigt, ist: Unsere Heimkehr nach Zion, die Aufrichtung des Staates Israel - sind sie Anfang der Enderlösung, Beginn jener (eschatologischen) „Endzeit“? Oder ist es richtiger, unsere heutige Rückkehr in unser Land in derselben Perspektive zu sehen wie die beiden früheren Niederlassungen; der aus Ägypten Befreiten und der aus Babylon Heimkehrenden? Rav Goren hat auf diese Frage eine eindeutige Antwort, die er in seiner Rede in der Jerusalemer Jeschiva Merkas Harav so formulierte: „Alles geht nach himmlischem Plan, wir haben keinen Menschen zu fürchten, sondern darauf zu vertrauen, daß wir die dritte Erlösung verwirklichen: daß in unseren Tagen Juda erlöst, Israel in Sicherheit und Ruhe gebracht werden wird“ (Hatzo- feh, 27. 1. 74). Den Hinweis auf die „dritte Erlösung“ stützt Rav Goren auf eine homiletische Umdeutung eines Prophetenwortes (Sach 13,8), dėrzu- folge die dritte Ansiedlung Israels in seinem Lande die endgültige sein werde.

Daß unsere Erlösung durch unsere Taten gefördert oder gehemmt wird, darüber sind wir uns alle einig. Umstritten ist jedoch, ob es sich dabei um einen stetig fortschreitenden, nicht umkehrbaren und endgültigen Vorgang handelt Sind die grundlegenden biblischen Verheißungen überhaupt absolut oder sind sie bedingt?

Die alte Abrahamsgeschichte kann uns einen Schlüssel zum Verständnis der Frage liefern, wie wir unser Verhalten zum „gelobten Land“ theolö- gisch sehen sollen. Da müssen uns gewisse erstaunliche Tatsachen auffallen: vor allem die Grundtatsache, daß der Vater der Nation nicht in dem ihr verheißenen Lande geboren ist.

Abraham kommt in einem weit entfernten Lande zur Welt. Seine Bindung an die neue Heimat beruht auf einem Ruf und einer Versprechung: „Geh aus deinem Vaterland, aus deiner Verwandtschaft und deines Vaters Haus in ein Land, das Ich dir zeigen wprHp“ 12.1 V Daß Ahraham hpro-

isch diesem Rufe folgte, ist nur der Anfang eines langen Weges: Bei der „Bundschließung“ (Gen 15) erfahrt er, daß erst seine Nachkommenschaft nach 400 Jahren dieses Land zu eigen bekommen soll.

An diesem ungeheuerlichen Aufschub in der Landnahme schließt sich eine weitere beunruhigende Störung, die die Verheißung einer großen Nachkommenschaft völlig in Frage stellt: Isaak wird erst nach vielen Jahren der Unfruchtbarkeit geboren - ein Hinweis darauf, daß unsere Volks- werdung nicht als ein natürlicher Entwicklungsgang, sondern als Erfüllung einer Verheißung aufgefaßt werden sollte. Mehr noch: Abraham lebt in dem ihm verheißenen Lande als geduldeter Fremdling; seine Brunnen werden von den Philistern verschüttet; erst für das Begräbnis seiner Frau erwirbt er den ersten Flecken Land - eine kleine Grabstatt.

Zum Verständnis dieser Tatsache mag es hilfreich sein, die Unterscheidung zwischen natürlicher Bindung zwischen Volk und Land und der (uns) verheißenden Bindung einzuführen. Was ist natürliche Bindung? Ein auf seinem Boden ansäßiges Volk ist eben durch diese Ansäßigkeit mit ihm verbunden; so. versteht jedes Volk in der Welt sein Anrecht auf sein Land. „Natürliche“ Bindung wird im Volksbewußtsein als elementare Gegebenheit verstanden. Das Volk mag für Freiheit und für Unabhängigkeit zu kämpfen haben, fürchtet aber nicht, vom Heimatboden entwurzelt zu werden; Exi- lierung ist ihm keine Drohung, sie liegt seinem Bewußtsein fern.

Was ist „verheißende" Bindung ? Der Rechtsanspruch auf das Land beruht auf einer göttlichen Zusage, welche (zeitlich und prinzipiell) der konkreten Inbesitznahme vorangeht. Diese (a-rationale) Bindung ist daher von konkreter Besitznahme unabhängig.

Jeder dieser beiden Arten von Bindung hat ihre Vor- und ihre Nachteile: Die natürliche Bindung der Völker an ihre Länder ist kontinuierlich, aber „begrenzt“, sie kann ein Ende haben. Israels Bindung an sein Land ist diskontinuierlich - aber für immer.

Für diese Unterscheidung zwischen der zeitlichen Unbeständigkeit unserer territorialen Herrschaft und unserem Bestand als Volk läßt sich eine theologische Stützung im Worte des Propheten finden: „Sieh, die Augen

Gottes, des Herrn, sehen auf das sündige Königreich, daß ich’s vom Erdboden vertilge, wiewohl ich das Haus Jakob nicht ganz vertilgen will“ (Arnos 9,8). Das Reich Israel wird ob seiner Sünde vertilgt werden, dem Hause Jakob aber ist verheißen, daß es nicht verloren gehen, sondern auch im Exil weiterleben und in der Zukunft heimkehren werde.

Die verheißene Bindung ist demnach von historischen Situationen unabhängig. In der Tora ist diese Idee damit ausgedrückt, daß die Verbreitung der tatsächlichen Landnahme lange vorangeht: Sie ist Ergebnis der Befolgung des Rufes „Geh …!“

Zwei Aspekte hat, so scheint es nach all dem, der Aufschub bei der Erlangung des Verheißenen: einen wesensmäßigen und einen pädagogischen. Der erste beleuchtet das Überhistorische und Übernatürliche in Israels Existenz; der zweite besagt, daß die Träger der Verheißung durch deren Noch-Nicht-Erfüllung einer schweren Prüfung unterworfen sind.

Daß „gut und gerecht Handeln“ für die verheißene Landzusage von zentraler Bedeutung ist, muß betont werden, denn einem „auserwählten Volk“ droht die Gefahr überheblichen Eigendünkels, der sich in etwa darin äußert, daß ein inner-national geschlossenes Wertsystem aufgebaut wird. Die Tora betont aber gerade den über-na- tional ethischen Charakter des Gottesrechtes durch die Art, wie der Aufschub der Landnahme und das nötige „Warten“ in Ägypten begründet wird. „Denn das Maß der Schuld der Amori- ter ist noch nicht voll“ (Gen 15,18). Das besagt: Trotz der ergangenen Verheißung haben wir kein konkretes Besitzrecht-weil das Besitzrecht der Amori,- ter noch nicht erloschen ist Mithin: Die Verheißung hebt nicht automatisch natürliche Rechte anderer auf.

Die Tora warnt davor, an’«ns geschehene Wunder als Beweis für unsere sittliche Uberwertigkeit aufzufassen: „Wenn der Herr, dein Gott, sie vor dir verstößt, so denke nicht, ‘ob meiner Rechtschaffenheit ließ mich der Herr dieses Land bekommen und ob der Bosheit dieser Völker trieb Er sie aus.* Nicht ob deiner Rechtschaffenheit und Redlichkeit bekommst du ihr Land, sondern ob der Bosheit dieser Völker vertreibt sie der Herr von dir, und um die deinen Vätern gegebene Verheißung zu erfüllen… und wisse,

daß du ein starrsinniges Volk bist.. (Dt 9, 4-7).

Daß Verheißungen in Erfüllung gehen, ist auch noch kein Beweis für die Rechtschaffenheit der nutznießenden Generation. Wenn Israel Kanaan erobert, tut es dies als „Rute göttlichen Zornes“, als Instrument Seines Gerichts über die Kananäer. Wenn dann Israel den Weg letzterer geht, hat es ein ähnliches Schicksal zu erwarten: „Beobachtet Meine Lehren und Mein Recht und verübet nicht solche Greuel… sonst wird das von euch besudelte Land euch ebenso ausspeien wie es eure Vorgänger ausgespieen hat.“

Welch ungeheure Gefahr daraus erwächst, wenn die bedingte Verheißung als absolut-unbedingte mißverstanden wird, dafür wird uns in der „Tempelrede“ des Propheten Jeremia (Cap. 7) ein anschauliches Beispiel gegeben. Den Israelis jener Zeibschien es undenkbar, daß Gott Sein Heiligtum der Zerstörung durch Fremde ausliefern könnte. Sie benahmen sich so, daß de facto die Heiligkeit des Tempels in eine Tarnung für Sünden ausartete. Der Prophet drückt dies so aus: „Verlaßt euch nicht auf die lügnerische Meinung, .Dies ist der Tempel Gottes!“ Ist dieses Haus, das Meinen Namen trägt, euch zur Räuberhöhle geworden? ,.. Ich werde dem Hause, das

Meinen Namen trägt, auf das ihr vertraut - dem Ort, den Ich euch und euren Vätern gegeben habe - genau das tun, was Ich Schiloh getan habe!“ (7,4 ff.)

Wenn dem so ist, müssen wir in Betracht ziehen, daß die historische Pendelbewegung zwischen Exil und Erlösung, die im ganzen Verlauf unserer Geschichte unser Los war, vielleicht nicht an ihrem Ende angelangt und - was Gott verhüte! - noch weiter gehen könnte.

Ich selbst glaube, daß wir in einer Zeit der Erfüllung göttlicher Zusagen leben, daß wir göttliche Hilfe und Realisierung biblischer Verheißung erlebt haben. Solcher Glaube ist wichtig, um unsere Ausdauer, unsere Sicherheit, unsere Opferbereitschaft zu stärken. Vor allem aber sollte er anspornen, unsererseits alle Energie und alles Können dafür einzusetzen, daß die Verheißungen wahr werden. Je eindringlicher wir uns selbst Vorhalten, daß unsere Bindung an dieses Land von der Art unseres Verhaltens abhängt, desto sicherer dürfen wir unseres Bleibens sein. Unser Tun aber muß aktives Bemühfen um den Frieden einschließen.

Das uns für immer verheißene (potentielle) Anrechte auf dieses Land, die Aussicht auf seine Realisierung wächst, je mehr wir das natürliche Recht unserer Nachbarn an diesem Lande respektieren. „Heiligkeit des Landes“ hat Sinn und Geltung nur als Basis für die Heiligkeit der Volksgemeinde. Diese Heiligkeit aber wird wachsen, je weniger wir unsere Zuversicht auf unsere „Erwählung“ gründen und je mehr wir statt dessen an uns selber, an der Reinigung unseres Lagers arbeiten.

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