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Ist das richtig ?

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Den Autor Eue Wiesel habe ich persönlich kennengelernt, als er in seiner Heimatstadt Härmarossziget vor einem kleinen Häuflein schäbiger jüdischer Uberlebender und wenigen ausländischen Gästen erzählte, wie 1944, drei Wochen vor Kriegsende, zwei Deutsche und fünfzig ungarische Gendarmen 15.000 immer noch hoffnungsvolle Juden aus der

Stadt trieben. Die Russen standen dreißig Kilometer vor der Stadt. Nur ein paar Tage Versteck hätten sie vor der Hölle gerettet, der schließlich aber fast keiner von ihnen entkam. Die Türen aller NichtJuden blieben verschlossen.

Mich erfaßt der blanke Schrek-ken, wenn ich realisiere, daß sie immer noch zu sind. Wie könnten wir sonst wagen zu fordern, daß ein damals 15- oder 16jähriger, der, zum Skelett abgemagert, als einziger seiner Familie Auschwitz überlebte, jemals wieder vergessen soll?

In ihrer Kritik von Elie Wiesels Roman „Der fünfte Sohn” wirft Ilse Leitenberger in der .Presse” „Büchern dieser Art” vor, „Gräben aufzureißen, statt sie zuzuschütten. Die Handlung”, meint sie, „sei unwahrscheinlich”, und „der Leser ist allein davon berührt, wie hier ein zwanghaft Schreibender von seiner schweren Jugend nicht wegkommt, wie er bis heute nicht zu .bewältigen' imstande ist, wie er sich als unfähig erweist, zu vergeben, zu vergessen, zu überwinden”.

Unwahrscheinlich, liebe Ilse

Leitenberger, sind alle wahren Begebenheiten aus dieser Zeit, unwahrscheinlich sind unsere eigenen Untiefen. Davon nichts mehr hören zu wollen ist beinahe das Einläuten der nächsten Aktionen, von deren Unvermeidlichkeit sich eine Generation, die von vergangenen Ereignissen niemals informiert wurde, schon wieder überzeugen lassen wird. Ihre Professoren haben die jüngste Geschichte dreißig Jahre lang verschämt verschwiegen.

Auch Geschichten wie die des Juden Reuven Tamiroff: Seine Erlebnisse im Ghetto enden im qualvollen Tod seines jüngsten Sohnes Ariel. Die Mutter wird darüber wahnsinnig, der Vater glaubt den SS-Mann, der für die brutalen Aktionen in seinem Stedtel verantwortlich war, nach dem Krieg ermordet zu haben. Jahrelang zerbricht er sich den Kopf darüber, weiß immer klarer, daß auch ihm nicht erlaubt war zu töten.

Der erst in New York geborene Sohn Reuvens kommt nur langsam hinter die Details der Geschichte seines Vaters, entdeckt dann aber, daß dessen Tötungsversuch gar nicht geglückt ist und der „Todesengel” des Ghettos als Industrieller in Deutschland munter Geschäfte macht. Der Sohn reist als Journalist getarnt in seine Stadt und kann den Schlächter nicht töten. Er erkennt, daß „Gerechtigkeit nur menschlich sein kann”.

So unwahrscheinlich die Handlung sein mag, so wahr ist ihre Aussage, so dezent der Stil des französischen Bestsellers.

Neue Wege, scheint mir, werden wir nur dann beschreiten, wenn wir den Anblick der weiterhin aufgerissenen Gräben verarbeiten. Wenn uns das nicht gelingt, dann ist auch der Schluß des Romans nicht mehr unwahrscheinlich; dann sitzen wir, sitzen Bestien an unseren vollen Töpfen, schon wieder bereit, aus dem Weg zu räumen, was unsere Sicherheit in Gefahr bringen könnte. Jesus Christus freilich wird wieder unter den geschundenen Opfern sein.

Wie andere, finde ich auch dieses Buch von Elie Wiesel eine Pflichtlektüre, vor allem für uns Österreicher. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß sie manchem vielleicht doch das Selbstmitleid vertreibt, „waun a an ondan zua-schaun muas, der bliat”.

DER FÜNFTE SOHN. Von Elie Wiesel. Verlag Herder, Freiburg 1985.191 Seiten, Ln., öS 193,40.

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