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Ist der Embryo ein Mensch?

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Die Frage, wann der Mensch zum Menschen wird, ob bereits vor oder erst nach seiner Geburt, und wenn vorher, zu welchem Zeitpunkt, kann von Politikern, Juristen und Theologen nicht beantwortet werden. Die Entscheidung darüber liegt beim Naturwissenschaftler, weil er als einziger die relevanten Kriterien Zusammentragen kann.

Das Problem besteht nämlich nicht darin, wann jemand subjektiv eine vorgeburtliche Konfiguration als „menschenähnlich” empfindet. Es liegt wesentlich tiefer: dort, wo entschieden werden muß, welchen Weg die Entwicklung im Mutterleib steuert, von der einzelligen Anlage an, ob auf diesem Weg notwendig ein Mensch entstehen muß, oder ob sich das erst (sozusagen unterwegs) entscheidet.

An einem bereits vor der Zeugung festgelegten kausalen Determinismus zweifelt heute kein Biologe mehr, wobei man auch weiß, daß die Umwelt im Mutterleib vorgeschriebene Entwicklungen „abruft”, daß also hier eine Art Gegenseitigkeit besteht. Doch das gilt für jedes Tier, das sich aus einem befruchteten Ei entwickelt. Was viele Menschen immer noch hindert, an die Menschlichkeit des soeben gezeugten Embryos zu glauben, sind im wesentlichen drei Gründe: Mit medizinischen Forderungen nicht vertraut, betrachten sie sogar noch das neugeborene Kind voll Unbehagen und zweifeln an dessen voller Menschlichkeit.

Überschätzung des Geistigen im Menchen führt automatisch zur Mißachtung des Stofflichen, was durchaus dazu beitragen wird, daß man Ungeborene „nicht für voll nimmt”; denn sie sind noch nicht geistig engagiert. Und schließlich ist da der auf Schulen eingebleute biogenetische Lehrsatz, besagend, daß ein Keim im Mutterleib während seiner eigenen Entwicklung auch noch die

Geschichte aller tierischen Stämme absolviert. Zu Darwins Zeiten war man überzeugt, daß ein menschlicher Embryo in einer bestimmten Phase identisch mit dem des Hundes sei, und dieser Glaube ist nicht ausgestorben. Noch immer lesen wir von den „Kiemen”, die erst spät verschwinden, und eine keineswegs ungebildete Frau sagte bei der politisch-ethischen Bewertung der Abtreibung: „Warum die ganze Aufregung? Es ist zu dieser Zeit doch bestenfalls ein besserer Fisch.”

Doch „es” ist zu keiner Zeit ein Fisch. Selbst wenn es durch einen genetischen Unfall, durch verhängnisvoll gepaarte Gene der Eltern, durch Bestrahlung, Röteln der Mutter, Tablettenmißbrauch oder einfach Sauerstoffentzug schrecklich verstümmelt, mißgebildet oder schwachsinnig geboren würde, wäre es weder Tier noch „Monster”, sondern schlicht ein verstümmelter, mißgebildeter, schwachsinniger Mensch. Wie sich die Gesellschaft zu ihm einstellt, ist eine politische Frage; ein Alibi für Mißhandlungen liefern Anthropologie und Naturwissenschaften gewiß nicht.

Unsere neuesten Kenntnisse über das, was sich im Mutterleib abspielt, stammen vor allem von Anatomen. Nur ihnen war es möglich, durch Präparationen unzähliger Ungeborener, die aus irgendeinem Grund vorzeitig starben, durch die von der modernen Anatomie entwickelte Schnittechnik und die Verwendung polymerer Kunststoffe total und in den Zusammenhängen durchschaubar die Gestaltentwicklung (Morphogenese) von Embryo und Fötus darzustellen.

Der Göttinger Anatom Professor Blechschmidt darf mit Recht als einer der Protagonisten auf diesem Gebiet genannt werden, nicht nur als exzellenter Kenner der wissenschaftlichen Problematik, sondern auch als hervorragender Techniker, dessen Schnittsammlungen Weltruf besitzen und beispielsweise in der amerikanischen Carnegie Collection gezeigt werden. Blechschmidt, seit langem ein Anwalt des werdenden Menschen, zeigte die Unhaltbarkeit des sogenannten „biogenetischen Grundgesetzes”. Er brachte einen sorgfältig gezeichneten, äußerst kostbaren anatomischen Atlas unter dem Titel „Die pränatalen Organsysteme des Menschen” (mit 212, teils mehrfarbigen Abb., Hippokrates-Verlag Stuttgart 1974, 64 DM) heraus.

Wer in diesem Dokumentarband die Entwicklungsphase vom befruchteten Ei bis zum 29 mm langen Embryo (Ende des zweiten Monats) betrachtet, wer die bereits zu dieser Zeit erkennbare Gesichts- und Schädelbildung des Menschen entdeckt und — rückblätternd — die Vorgeschichte dieser Entwicklung studiert, verfällt kaum mehr auf den Gedanken, der Mensch sei nicht von Zeugung an zum Menschen bestimmt gewesen. Abgesehen von der Unlogik einer solchen Annahme, spricht nämlich auch der Augenschein dagegen.

Von ganz anderer Seite her wird die Geschichte des „menschlichen” Embryo im Mutterleib neuerdings unterstützt. Der Franzose Edgar Morin hat in „Le paradigme perdu: La nature humaine” (deutsch: Das Rätsel des Humanen. Grundfragen einer neuen Anthropologie, Piper-Verlag, München/Zürich 1974, 26 DM) etwa zur gleichen Zeit, als Blechschmidt seinen Atlas herausgab, die historische Menschwerdung als .multidimensionale Morphogenese” gedeutet. Mehrere Millionen Jahre lang haben vormenschliche Steppenaffen durch ständige Rückkopplungen zwischen genetischem System, Umwelt und der Entwicklung eines neuartigen Zerebralapparates eine ganz bestimmte Entwicklungsrichtung —rückblickend läßt sich sagen: zum Menschen hin! — eingeschlagen. Nicht als blitzartiges Geschehen, sondern als mühsamer Fußmarsch durch die Zeit, verbunden mit unzähligen Mutationen, winzigen Entwicklungsschritten, fehlgeschlagenen Experimenten, ist der Eintritt des Menschen in die Geschichte des Planeten zu erklären.

Trifft dies zu, dann wird uns der Geschmack an dem naiven Materialismus der frühen Darwinisten erst recht verdorben. Was so unendlich mühsam zustande gebracht wurde, was so lange brauchte, bis sich ein zuverlässiges genetisches System neu stabilisieren konnte, dürfte auch vom größten Pragmatiker unserer Zeit nicht mehr als „befristet animalisch” betrachtet werden. Die Geschichte vom Tier im Schoß der Frau, das erst nach drei Monaten. menschlich wird, ist vielleicht einer der schlimmsten Rückfälle in überholtes Denken.

Wie immer man in Zukunft über die Rechte oder Nicht-Rechte der Ungeborenen urteilt, auf die Naturwissenschaften wird man sich bei politisch-juristischen Entschlüssen nicht berufen können. Alles, was Anatomen, Erbbiologen und Anthropologen gegenwärtig wissen, deutet darauf hin, daß der Mensch schon in der Sekunde der Zeugung Mensch und niemals etwas anderes ist.

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