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Ist die Macht „nach Tito“ schon übergeben?

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Es ist eine ganze Menge zusammengekommen: Wahrnehmungen und Nachrichten von subtilen politischen Schwierigkeiten in Jugoslawien, die allmähliche Auslöschung der marxistisch-philosophischen „Praxis“-Gruppe, Widerborstigkeiten von Studenten in Belgrad, grüblerische Fragen nach dem Befinden des greisen Marschalls Tito, Verfassungsreform und Wahlen nach einem neuen System, das „Polarka“-Spiel in Zeitungen und ORF. Die ÖVP fühlte sich — gottlob, möchte man sagen — bewogen, eine bereits vorbereitete „dringliche Anfrage“ im Parlament nicht zu stellen; Bundeskanzler Kreisky wiederum hatte sich, wie man auch hört, aufs allerbeste für die Antwort gerüstet. Und natürlich die obligate Frage, ob Lütgendorf nun endlich zurücktrete.

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Es ist eine ganze Menge zusammengekommen: Wahrnehmungen und Nachrichten von subtilen politischen Schwierigkeiten in Jugoslawien, die allmähliche Auslöschung der marxistisch-philosophischen „Praxis“-Gruppe, Widerborstigkeiten von Studenten in Belgrad, grüblerische Fragen nach dem Befinden des greisen Marschalls Tito, Verfassungsreform und Wahlen nach einem neuen System, das „Polarka“-Spiel in Zeitungen und ORF. Die ÖVP fühlte sich — gottlob, möchte man sagen — bewogen, eine bereits vorbereitete „dringliche Anfrage“ im Parlament nicht zu stellen; Bundeskanzler Kreisky wiederum hatte sich, wie man auch hört, aufs allerbeste für die Antwort gerüstet. Und natürlich die obligate Frage, ob Lütgendorf nun endlich zurücktrete.

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Allmählich werden die Umrisse sichtbar, wie die Krise (= Entscheidung“) Jugoslawiens beschaffen sein kann, die mit einem gleichwie vor sich gehenden Abgang Titos von der Bühne Jugoslawiens heranreift. Obwohl noch Nebel genug vorhanden ist, in dem mit langen Stangen gestochert wird, obschon es genug einander widerstreitender Theorien gibt, eine Anzahl von Indizien liegen vor, wie aus dem Jugoslawien von heute eines von mongen werden wird. Der „Fall Polarka“ ist dafür symptomatisch, aber er ist nicht typisch.

Gemeinhin läßt sich sagen, daß die Vorbereitung auf die „Zeit nach Tito“ in Jugoslawien vor etwa zwei, drei Jahren begonnen hat. Es begann mit der Neuordnung nicht nur des außenpolitischen Verhältnisses der Jugoslawischen Vielvölkerrepu-blik zur Sowjetunion, sondern ebenso der „relativen Assimilation“ des „Tito-Kommunismus“ an die kommunistisch-sozialistischen Relationen des von Moskau geleiteten „sozialistischen Lagers“.

Um jene großen Unterschiede aufrechtzuerhalten, die sich seit „Titos Bruch mit Moskau“ einstellten, der ja zunächst „nur“ einer mit Stalin war, hätte es einer Persönlichkeit bedurft, die Tito an Symbolwert, Ansehen und Stärke nicht nur gleichkommt, sondern diesen womöglich darin noch übertrifft. Eine solche Persönlichkeit ist jedoch nicht vorhanden. So schien es Tito geboten, was im Lichte der 1968 in der CSSR eingetretenen Ereignisse auf der Hand lag, sich mit Moskau zu arrangieren. Das ist geschehen.

In der Folge kam es zu einem mitunter tragische Züge annehmenden innenpolitischen „Kehraus“, der auch vor dem „Bund der Kommunisten“ nicht haltmachte. Den äußeren Anlaß dazu lieferten allerhand „Nationalismen“ — besonders akzentuiert in Agram und Belgrad, also unter Kroaten und Serben, — in deren Gefolge man alsbald auch andere „Feinde und Überreste von Feinden“ ausmachte: Liberale, Linksanarchisten, sektiererische Häretiker, Bürokratismus, Wirtschaftshyänen, kleinbürgerliche Deformationen, kleineigentümerische Bakterienkolonien. „Die Partei“, lange Zeit bis fast zur Unkenntlichkeit aus dem vordergründigen Erscheinungsbild entschwunden, trat wieder hervor.

Sie tat das in rigoros gesäuberter Gestalt. Die Regierungen der Teilrepubliken wurden ebenso ausgewechselt wie die Parteiführungen. Die enormen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, serienweise valid gewordene Industrieunternehmungen, Arbeitslosigkeit, die Abwanderung immer größerer Kontingente als „Gastarbeiter“ nach Österreich, in die Schweiz und in die BRD,Preissteigerungen und Geldwertverall lieferten das Alibi für ein um-angreiches Halali auf jene Hyänen“, die die „Arbeiterselbst-erwaltung“, das Kernstück des Titoismus“ angeblich (und mitunter uch wirklich) ad absurdum geführt atten. In hunderten lokaler Partei-ongresse wurden „Lehren gezogen“ nd verkündet. Daneben gab es Ver-aftungen, Prozesse, kurz, das reiche nstrumentarium der Parteimacht rurde eingesetzt, um jenen „neuen .ustand“ herzustellen, der Jugo-lawien in eine bessere Relation zum sozialistischen Lager“ bringen soll, line neue Verfassung und — eben ;tzt — Neuwahlen geben die recht-che und repräsentative Grundlage afür her. Mit diesen Neuwahlen, ie nach noch ungewohnten und un-rprobten Prinzipien vor sich gehen, :heint das abgeschlossen, was man en „Prozeß des Uberganges“ (in die Zeit nach Tito“) nennen möchte. iuch hier, ja hier gerade, tritt die 'artei deutlich hervor, der alles an-ere nachgeordnet ist; die neue 'arteiführung, aus der Stane Dolanc, in Slowene, besonders hervorsticht, agt, erst damit werde die „Arbeiter-älhstverwaltung“ — ein Synonym ir die „Diktatur des Proletariates“ - vollendet, ja, verwirklicht. Tat-ächlich gewählt wird freilich nur uf der untersten lokalen, betriebchen und genossenschaftlichen !bene. Die Kandidaten werden durch ie Partei gestellt oder approbiert, robei durchschnittlich etwa 70 Pro-ent derselben Parteimitglieder sind, er Rest besteht aus von der Partei anktionierten „Parteilosen“. Die so ewählten untersten Körperschaften wählen dann „Delegierte“ für die ächsthöheren und so weiter bis ganz nach oben“. Hier werden ur-sninistische „Räteprinzipien“ sicht-iar, die eine gewisse Garantie da-ür bieten, daß „Sonderinteressen“ nationale, bürokratische, ideologi-che usw.) kaum noch durchschlagen :önnen.

Dem Vorgang haften die Merkmale iner „sozialistischen Monotonie“ und des Partei-Monopolismus gewiß an; aber, so läßt sich hinzufügen, in der gegenwärtigen Lage Jugoslawiens dürfte darin die realistische Sicherheit vor inneren und/oder äußeren Überraschungen liegen, wie sie die „Zeit nach Tito“ ansonsten wohl bieten könnte.

Natürlich sind damit die Probleme, vor allem die wirtschaftlichen, nicht gelöst. Aber das, was da organisiert wurde, war eine der Voraussetzungen, daß dem „Ausgleich mit Moskau“ auch dessen wirtschaftliche Hilfe folgte. Eine Hilfe, von der die Partei und die neue Staatsführung hofft, sie könne in den nächsten drei bis vier Jahren die „asozialistischen Erscheinungen“, wie enorme Arbeitslosigkeit, Inflation, ökonomische Schwächen aller Art, beseitigen. Die vordem reichlich geflossene US-Finanzhilfe hatte sich schon seit langem sehr verdünnt und das gab wohl Tito und den Seinen genug Anlaß, über den subtilen Zusammenhang dieser Erscheinung mit den „Ausgleichsoperationen zwischen den USA und der SU“ nachzusinnen.

Es gibt Propheten, die nicht müde werden, vorherzusagen, daß mit dem „Ende Titos“ ein allgemeines Durcheinander, ja, ein Chaos Jugoslawien heimsuchen werde; Kroaten würden über Serben, Serben über Kroaten herfallen, die unterschiedlichsten Richtungen in der Partei: Alt- und Neu-Stalinisten, Progressisten, Tito-isten, sozialistische Demokraten, ja, sogar Liberale, die sich nur mühsam mit irgendwelchen „Kommunismen“ verkleiden, würden ebenfalls übereinander herfallen und das auslösen, was der nach dem Westen abgefallene ehemalige CSSR-General Sejna in seinem „Planspiel Polarka“ anschaulich machte. Daß dieses „Planspiei“ just zu einem Zeitpunkt publik gemacht wurde und durch den ORF höchste Aktualität erlangte, zu dem Gerüchte sich verdichteten, Titos Befinden stehe wieder einmal nicht zum allerbesten, ist gewiß kein Zufall. Der Vorgang sollte die „Chaos-Theorie“ stützen und signalisieren, daß „Entspannung“ ein Thema sei, das sich nicht von „Eventualitäten“ lösen lasse.

Gewiß läßt sich nicht mit Sicherheit sagen, daß jene Vorkehrungen, die in Jugoslawien getroffen wurden, den „reibungslosen Übergang“ garantieren. Wie sich ja auch nicht auf lange Sicht sagen läßt, wohin diese Vorkehrungen Jugoslawien letztlich führen werden. Aber es bestehen immerhin viele gute Gründe für die Annahme, daß Tito und „die Partei“ die Zügelführung neu organisiert haben, um „Ausbrüche“ in unabwägbare Fährnisse zu verhindern. In einem gewissen Sinne hat also die „Zeit nach Tito“ in Jugoslawien selbst schon begonnen. Und wer die eiserne, nicht selten unbarmherzige Konsequenz des „demokratischen Zentralismus“ des „Bundes der Kommunisten“ (so heißt die KP Jugoslawiens) kennt und einzuschätzen versteht, wird dem „Chaos“ nur sehr stark herabgesetzte Chancen zubilligen.

Je kritischer die innenpolitische und die wirtschaftliche Lage des SHS-Staates ist, desto fester werden die Zügel gestrafft werden. Wie es auch ganz allgemein ein Merkmal kommunistischer Politik ist, in Phasen „internationaler Entspannung“ daheim zunächst eine „Verschärfung des Kurses“ einzuleiten, um unerwünschte und „systemschädiiche“ Euphorien erst gar nicht aufkommen zu lassen.

Was das „Planspiel Polarka“ in diesem Zusammenhang betrifft und was vor allem via Zeitungen und ORF nach Österreich reflektiert wurde, verdient einige kurze Bemerkungen. Zunächst diese: es entspricht natürlich der Übung und der Aufgabe militärischer (und politischer) Hochkommandos, exakt durchgespielte Pläne „für alle Fälle“ parat zu haben. Immerhin aber erscheint es fraglich, ob „Polarka“ auch tatsächlich Aktualitätswert besitzt. Denn fraglich ist ja schon, ob die SU sich zu einem so direkten Eingreifen in einem Lande entschließen könnte, das von der Weltpolitik ganz allgemein nicht ebenso vorbehaltlos wie etwa Ungarn oder die CSSR der „russischen Einflußsphäre“ (über die „ideologische Realität“ hinaus) zugerechnet wird. Es ist wohl etwas anderes, wenn russische und andere Soldaten des Warschau-Paktes in Prag oder Budapest auftauchen oder an der italienischen Grenze! Abgesehen davon besteht bei einer — wie in „Polarka“ vorausgesetzten — „Besetzung Jugoslawiens durch die Russen“ immerhin die abschreckende Möglichkeit für ein „südosteuropäisches Vietnam“, das heißt: auch die Russen müßten damit rechnen, in dafür ideal geeigneten Gebieten in langwierige Partisanenkämpfe sich verwickelt zu sehen.

Gleichfalls fraglich ist, ob die Warschau-Pakt-Strategie, um das Ziel der Besetzung Jugoslawiens zu erreichen, den „Durchmarsch durch Österreich“ überhaupt benötigt. Die Geographie des Raumes spricht nicht unbedingt dafür. Und nicht dafür spricht auch, daß ein solcher „Durchmarsch“ mit Sicherheit unabsehbare, möglicherweise weltweite politische und vielleicht auch militärische Komplikationen hervorriefe.

Vielleicht, so könnte man kühn schließen, sollte die „Polarka“-Affäre überhaupt nur dazu dienen, Jugoslawien deutlich zu machen, was alles geschehen könnte, wenn der „Ubergang“ mißlänge; und wenn's nicht die Absicht war, dann könnte man dies auch für eine unbeabsichtigte Folge des „Manövers“ halten.

Eines aber läßt sich mit Sicherheit sagen: wenn nichts anderes, dann wird durch die Nachbarschaft dieser Ereignisse, verstärkt durch den „Polarka-Effekt“, überdeutlich, wie wenig Österreich eine „Insel der Seligen“ ist und wie sehr ein so kleines Land darauf angewiesen bleibt, sich militärischen Verwicklungen durch vorbeugende Außenpolitik zu entziehen. Dabei wird man nicht darauf vergessen können, wie unzweckmäßig es wäre, würde etwa das „Kärntner Minderheitenproblem“ sicn zur Belastung zwischenstaatlicher Beziehungen, noch dazu in einer solchen kritischen Phase, aufwachsen! Wenn auch die aus Artikel VII des Staatsvertrages resultierenden Fragen in keinerlei direktem Zusammenhang mit den ganz anders gelagerten „kritischen Ereignissen und Entwicklungen“ stehen, so weiß man doch aus der näheren und ferneren Geschichte, wie unvermutet rasch sich solche „Zusammen-hänee“ herstellen lassen.

Kommen wir zu einer Schlußbetrachtung: Die innere Entwicklung Jugoslawiens deutet darauf hin, daß dort Übergang und Ubergabe der „Macht nach Tito“ bereits vollzogen erscheinen; was niemanden der Sorge enthebt, daß nicht doch unabsehbare Ereignisse eintreten und „außer Kontrolle“ geraten könnten. Sollte letzteres der Fall sein, wird sich Österreich strikte an seinen Neutralitätsstatus zu halten haben, mit allen Konsequenzen!

Die äußeren Beziehungen Jugoslawiens, insbesondere jene zu Moskau, deuten darauf hin, daß Tito realistisch bemüht war und ist, alle Fährnisse aus dem Wege zu räumen, weshalb er auch eine starke Annäherung an Moskau und das „sozialistische Lager“ herbeiführte.

Die wirtschaftliche Situation Jugoslawiens ist nach wie vor kritisch; sie wird durch den Standort zwischen COMECON und EWG nicht gerade erleichtert, gewisse „explosive Stoffe“ sozialer und politischer Natur sind auszumachen. Das „Gastarbeiterproblem“ ist für Jugoslawien noch viel größer — weil es auch soziale, politische und andere Aspekte mehr hat — als für jene Länder, welche den Gastarbeiterstrom aufnehmen.

Das „Planspiel Polarka“, unbesehen, ob es für realistisch und/ oder aktuell gehalten wird oder nicht, macht deutlich, daß es „Konflikt-Strategien“ besonderer Art gibt, die nicht zur Panikmache — womöglich mit Seitenblick auf parteipolitische Agitationsgelegenheiten — geeignet sind, sondern auf die Notwendigkeit hinweisen, die Neutralitätspolitik besonders ernst zu nehmen und in ebenso permanente wie behutsame Außenpolitik umzusetzen. „Außenpolitik“ erschöpft sich aber nicht aHein in diplomatischen Beziehungen, sie enthält auch die Forderung nach einer sehr allgemeinen Rücksichtnahme auf das, was man einst „Staatsräson“ genannt hat, die zu wahren nicht bloß den Professionisten und Politikern aufgegeben ist.

Die rasche Erfüllung des Artikels VII des Staatsvertrages steht mit alledem zwar nicht in direktem Zusammenhang, aber weil es mächtige Imponderabilien gibt, die solche Zusammenhänge plötzlich herstellen könnten, ist die berühmte „lange Bank“ der gewiß schlechteste Weg, auf welchen man dieses Problem vor sich herschieben darf.

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