6895154-1980_08_09.jpg
Digital In Arbeit

Ist die Moderne erschöpft?

19451960198020002020

Vor einiger Zeit wurde von international bekannten Fachleuten im Rahmen des „österreichischen Kulturgespräches" die Frage erörtert: „Ist die Moderne erschöpft?" Der Autor des hier abgedruckten Beitrags ist gebürtiger Wiener und derzeit Direktor der Hamburger Kunsthalle.

19451960198020002020

Vor einiger Zeit wurde von international bekannten Fachleuten im Rahmen des „österreichischen Kulturgespräches" die Frage erörtert: „Ist die Moderne erschöpft?" Der Autor des hier abgedruckten Beitrags ist gebürtiger Wiener und derzeit Direktor der Hamburger Kunsthalle.

Werbung
Werbung
Werbung

Unser Epochenbewußtsein schwankt zwischen zwei Extremen. „Everything goes", alles geht gut, behaupten die Weit- und Offenherzigen. Ihnen antworten die Propheten der Sinnentleerung: „Rien ne va plus", nichts geht gut. Jene verneinen die Frage nach der Erschöpfung, diese bejahen sie. Ich habe nicht vor, einem der beiden Standpunkte ein Plädoyer zu liefern.

„Erschöpfung" hat zwei Seiten. Das Wort bedeutet einen physischen Kräfteverlust und geistige Stagnation bzw. Selbstpreisgabe: man sagt, jemand habe seine Argumente erschöpft, wenn er auf der Stelle tritt. Die beiden Wortbedeutungen überlagern sich häufig und werden, zur wechselseitigen Bekräftigung herangezogen. Wer sich ihrer bedient, entwirft eine negative Geschichtsperspektive, die nach unten führt.

Die These von der Erschöpfung läßt gleichwohl auch andere Zukunftserwartungen zu. Sofern wir sie nicht auf eine apokalyptische Endgültigkeit festlegen, darf unser Denken ein dialektisches Umschlagen nicht ausschließen. Erschöpfung kann sich von Kräftigung abgelöst, in Neubeginn umstülpen. Das ist eine uralte Einsicht. Erschöpfung und Erneuerung, Tod und Wiedergeburt -rinascita, rinascimento - sind ein komplementäres Paar, nach dem seit eh und je der geschichtliche Ablauf in seinen kultischen wie kulturellen Dimensionen gemessen wird. Dahinter, steht der Kreislauf der Labeos-kräfte, das Ineinander von 'Werden und Vergehen, in dem das kosmolo-gische Weltbild der Arftike seme-ah-schauliche Metapher besitzt. Aus dieser Sicht ist Erschöpfung eine geradezu notwendige Phase eines Kreislaufprozesses, nicht minder notwendig als ihre Entsprechung, die Erneuerung, die rinascita, die Wiedergeburt.

Wir kennen diese Erneuerung als bewußten Rückgriff unter dem Epochenkennwort Renaissance. Es bezeichnet die Entdeckung zweier neuer, unverbrauchter Erfahrungswurzeln, die einen Neubeginn versprechen: die Natur und die Antike. Seit diesem Einschnitt ist die europäische Geschichtserfahrung aus der in sich ruhenden Geschlossenheit des mittelalterlich-christlichen Weltbildes herausgetreten, welches linear auf die Endzeit angelegt war. Allein dieser Aufgabe hatten die Künste zu dienen, von ihr wurden sie gerechtfertigt, weshalb die mittelalterliche Kunsttheologie keinen Gedanken ah die Erschöpfung der Kräfte (oder der Argumente) verschwendete.

Dieses kritische Pulsfühlen wurde erst zu einem Zeitpunkt möglich, da die Künstler anfingen, ihre Tätigkeit zu problematisieren und zu thematisieren, da plötzlich der einzelne als Bahnbrecher auftrat, der sich anschickt, das stabile, von der Tradition vermittelte Wertgefüge zu relativieren, indem er kraft der subjektiven Erst- und Einmaligkeit seiner Leistung das Neue zum Maßstab des geschichtlich Möglichen und Wünschbaren macht.

Wird seitdem Geschichte als Leistung herausragender Individuen betrachtet - worin wir die Vorstellungsmuster der christlichen Offenbarungsreligion fortwirken sehen -, so gerät dieses Denken in auf- und absteigenden Leistungsbahnen (zwischen denen die Ebenen der geistigen Verflachung liegen) doch auch wieder in das Kreislaufschema der Antike. Für Vasari, den Geschichtsschreiber der Renaissance, entfaltet sich die Kunst organisch: auf die Kindheit (Trecen-to) und die Jünglingszeit (Quattrocento) folgt das 16. Jahrhundert, das reife Mannesalter, das im göttlichen Michelangelo sein schöpferisches Nonplusultra erreicht. Darauf folgt notwendig die decadenza, das Epigonentum der Manieristen, deren Zeitgenosse Vasari war.

Bilden Erschöpfung und Erneuerung seit Giotto ein Geschichtskon-tinuum, dem die unvorhersehbaren Eingriffe der subjektiven Genialität den repetitiven Kreislauf ersparen, so folgt daraus die Frage nach den Richtungen dieser Erneuerungstendenzen. Wir sehen sie seit der von Italien ausgehenden Wiedergeburt der Antike auf immer neue Bereiche der Ür-sprünglichkeit gerichtet. „Ad fon-tes!'' und „ab ovo" lauten die Devisen. Der Zweifel an der ausgeschriebenen Form (bzw. Formel) lenkt den übersättigten Blick auf die spröden Reize archaischer oder barbarischer Formbereiche, auf das sogenannte „Primitive". Das anti-akademische Pathos ist unverkennbar, es kann sich manchmal gegen die Hochkunst insgesamt wenden: dann feiert es die Entdeckung der Kinderzeichnung', der Sonntagsmaler und der röhrenden Hirsche. Hinter der Suche nach Ursprünglichkeit steht ein gebrochenes, unnaives Geschichtsbewußtsein, das wir mit Schiller sentimental nennen dürfen.

Das bringt mich auf die zweite | Voraussetzung. Ich meine das Theoriebedürfnis. Die Erneuerung gibt sich mit ihren „Zurück zu den Wurzeln" eindeutig organische Zielvorstellungen, doch ist sie in der Praxis unnaiv, auf Theorien angewiesen. Auf eine Formel gebracht: die programmatische, auf eine Entwicklungsdynamik verpflichtete Moderne wird von zwei Impulsen getragen, von einem vital-organischen und einem intellektuellen. Jener proklamiert die Verkündung- in Permanenz, dieser liefert das theoretische Rüstzeug.

Seit die Reflexion als theoretische Begleitstimme die Kunstproduktion legitimiert, entdeckt sie dem Ur-sprünglichkeitspathos immer neue Anlässe und Ansprüche. Der Künstler wird zu seinem eigenen Theoretiker, die Spontaneität wird vom Selbstkommentar provoziert oder gestützt. Das kann zum Theorieüberhang bzw. -Überschuß führen.

was wir Moderne Kunst nennen (und mit Giotto beginnen lassen), steht nicht nur unter dem Zwang zur Innovation, zu Erstmaligkeit und Originalität, sondern eben darum unter der komplementären Nötigung, das Erreichte preiszugeben und immer von neuem zu neuen Quellen aufzubrechen. Das je neue Ursprünglichkeitserlebnis -ob nun von Zeichnungen Geisteskranker oder von Höhlenzeichnungen ausgelöst - rechtfertigt sich gegenüber dem Alten, dem Status quo, indem es dessen Erschöpfung diagnostiziert. Je älter die europäische Kunst wird, desto energischer verlangt es ihre Wortführer nach Verjüngung. Daraus folgt, daß „Erschöpfung" zu den Postulaten gehört, mit denen seit Giotto argumentiert, d. h. das Neue in seiner Notwendigkeit und Unausweichlichkeit gerechtfertigt wird. (Ohne „Erschöpfungs"-Prognosen hätte ja das Neue keine Daseinsberechtigung, keinen erlösenden Geschichtsauftrag.)

Die heutige Situation ist nicht von Ausweglosigkeit, sondern von einem Uberangebot an Auswegen gekennzeichnet. Man stößt sich rundum an offenen Türen. Die Wahlfreiheit verwirrt und erschöpft. (Eine Beobachtung, die auch den Pluralismus auf der politischen Szene trifft.) Das besagt, auf ein Paradoxon gebracht, daß die diversen Erneuerungen seit der Renaissance mit Zitaten, mit Krük-ken und Paraphrasen bestritten, das heißt, erkauft wurden.

Legten wir an die progressive Moderne unseres Jahrhunderts den strengen Maßstäb der ganz und gar eigenschöpferischen Eigentümlichkeit, dann müßten wir feststellen, daß viele der gängigen Sprachformen auf Lehnwörter zurückgehen. Das gilt für die Fauves wie für die Pop-Maler, für die Surrealisten wie für Marcel Duchamp. Das ist keine Kritik. Daß die Moderne eklektisch-syn-kretistische Züge aufweist, hängt notwendig mit ihrem enzyklopädisehen Formwissen, mit ihrer Wahlfreiheit einerseits und mit dem Innovationszwang anderseits zusammen. Diese Koppelung scheint unauflösbar.

Meine Reserve gegenüber Erschöpfungs-Prognosen möchte ich noch mit einem anderen Argument begründen. Der Gemeinplatz, daß jedes Ding zwei Seiten hat, gilt auch für den jeweiligen geschichtlichen Augenblick. Er ist Ubergang von der Vergangenheit in die Zukunft, gleichermaßen Ende wie Anfang. Unsere Bewertung sollte folglich immer beide Blickrichtungen berücksichtigen. Tun wir das nicht, riskieren wir Fehlurteile. Damit sind wir bei der Frage: Wer bestimmt die Vorzeichen, unter denen die Kunstleistungen einer bestimmten Epoche zu beurteilen sind? Das besorgen die auf Theorien pochenden Kritiker, wobei die Theorieentwürfe der Künstler nicht unerheblich mitwirken. Unser Theoriehunger - eine Folge der reflektierenden Unnaivität - hat dazu geführt, daß wir einer Kunst, die ohne Theorie auftritt, nicht recht über den Weg trauen. Theorie ist gleichsam der Adelstitel der Avantgarde. Und der

Begriff Avantgarde ist ein Wunschbild, das sich zum Fetisch verfestigt hat.

Der Geschichtsimpuls, der sich avantgardistisch gibt, scheint heute an seinem Ende angelangt. Seine ersten Wortführenkamen aus der französischen Romantik, sie bedienten sich des Innovationsgedankens, verkürzten und radikalisierten ihn aber, indem sie ihn aus dem organischen Kräftehaushalt heraushoben und die permanente Innovation fetischisier-ten. Dieser Begriff und seine Argumente mußten die Kunst schließlich in die Uberanstrengung treiben.

Wir müssen lernen, die Moderne aus dem Innovationszwang zu entlassen, in dem sie von den Ideologen der Avantgarde festgehalten wird. Das Geschichtsbild, das ich vorschlage, ist gar nicht neu. In den letzten Jahren haben wir gelernt, das 19. Jahrhundert differenzierter zu sehen. Es ist heute nicht mehr allein die Epoche von Manet und Daumier, sondern auch von Makart und Meis-sonier. Auch das 20. Jahrhundert hat seine Makarts und Meissoniers, auch sie gehören in das Insgesamt unserer Kunstlandschaft. Freilich, solange wir den kämpferischen Begriff „moderne Kunst" kurzerhand als Epochen- und als Qualitätsbezeichnung verwenden, geraten nur die innovativen Erhebungen und Verwerfungen dieses Terrains in unser Blickfeld. Deshalb sollten wir uns allmählich von diesem Wort verabschieden.

Nicht die Moderne hat sich erschöpft, sondern ein Begriff der „Moderne", der einseitig nur auf den je letzten frisson nouveau ausgerichtet ist. Es ist an der Zeit, die Kunst unseres Jahrhunderts in den gelassenen Geschichtsakt einzufügen, der Erneuerung und Erschöpfung in ihrer wechselseitigen Bedingtheit gelten läßt.

Auch die Erschöpfung ist eine Schöpfung.

Und in jeder Schöpfung steckt eine Erschöpfung.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung