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Ist die Theologie Sache des Volkes ?

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Die Gemeinschaft sei der wahre Theologe, meint der brasilianische Theologe Clodovis Boff, Bruder des bekannten Franziskaners Leonardo Boff. Was will er damit sagen?

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Die Gemeinschaft sei der wahre Theologe, meint der brasilianische Theologe Clodovis Boff, Bruder des bekannten Franziskaners Leonardo Boff. Was will er damit sagen?

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Die Theologie ist bei uns in Lateinamerika eine gesamtkirchliche Angelegenheit geworden. Sie ist ein Phänomen, das das ganze Volk Gottes einbezieht und interessiert. Sie ist nicht mehr bloß eine Kuriosität...

Sie ist nicht mehr nur Sache der theologischen Fakultäten, der Institutionen und Priesterbildungsanstalten. Die Theologie ist mitten im Volk Gottes. Ein Phänomen wie dieses gibt es weder in Europa noch in den Vereinigten Staaten, zumal in dieser Dimension. Warum?

Weil es dort keine Kirche gibt, die hinter einer solchen Theologie stehen würde. Weil es dort keine Kirche des Volkes gibt. Keine Kirche, die den Weg des Volkes geht...

In Europa nimmt das Volk die Ergebnisse der Theologie und die Produkte des religiösen Denkens auf, oder es weist sie zurück. Und wessen Schuld ist das? Sind die Menschen dort weniger intelligent als wir? Nein. Es ist so, weil sie nicht in einer kirchlichen Atmosphäre leben, wie wir sie haben. Sie haben keine prophetische

Kirche. Keine lebendige Kirche. Sie haben keine Laien, die es auf sich nehmen, die sozialen Ursachen klarzustellen.

Ich versuche zu zeigen, daß die Theologie eine Reflexion ist. Sie ist das Zeichen für eine viel wichtigere Sache, einer Sache, die ihr vorausgeht, nämlich des Lebens der Kirche, ihres Kampfes für die Gerechtigkeit und die Lebendigkeit des Glaubens. Eine echte Theologie entspringt aus dem Glauben: aus einem suchenden, lebendigen, ausgeübten Glauben. Ist dieser Glaube tief, stark und lebendig, wird auch die Theologie, die eine Reflexion des Glaubens ist, tief, stark und lebendig sein.

Es ist wichtig, daß wir die tiefe Verbundenheit zwischen den drei Bereichen oder Funktionen der Laien, Hirten und Theologen, die allesamt im Dienste der Kirche an der Welt stehen, begreifen. Diese Verbundenheit ist etwas Wunderbares. Sie tritt besonders bei den großen Pastoraltreffen zutage, wo Priester und Bischöfe mit Laien - Pastoralhelfern, Katecheten, Koordinatoren und Gottesdienstleitern — aber auch mit Theologen, Soziologen und anderen Personen zusammenkommen. Alle haben verschiedene Rollen, sind aber miteinander verbunden, zutiefst verbunden.

In Europa läßt sich eine sehr starke Desintegration dieser drei wichtigen Funktionen beobachten. Wir haben dort eine Universitätstheologie, eine Theologie der Gebildeten, eine akademischwissenschaftliche Theologie, die dicke Bände produziert, deren Nutznießer lediglich wieder nur die Theologen sind. Weder die Laien noch die Bischöfe lesen sie, weil sie dazu kaum Zeit haben und auch keinen Magen, um den Inhalt zu verdauen. Es ist eine Elfenbeinturm-Theologie.

Daneben gibt es noch eine gewisse canonische, juristische Theologie, eine halb geheime Theologie, die die Theologie der Bischöfe ist und den Zweck hat, der Disziplin und der Doktrin zu dienen. Sie richtet sich gegen die Theologen der Universitäten, die man viel zu kritisch empfindet. Die Laien, von den Berufstheologen und mitunter auch von ihren eigenen Hirten verlassen, stehen ziemlich einsam da und schaffen sich eine eigene, vielfach wilde Theologie.

Das große Ziel, dem wir zustreben müssen, ist meines Erachtens, daß der Berufstheologe seine Theologie in enger Verbundenheit mit dem Volk betreibt. Aber auch das Volk muß Theologie betreiben, und zwar in enger Verbundenheit mit dem Berufstheologen. Anders gesagt: Das Volk gibt sich nicht mehr damit zufrieden, daß man Theologie für es oder gar an seiner Stelle macht. Theologie muß heute vielmehr mit dem Volk gemeinsam, im gegenseitigen Austausch betrieben werden.

Fragen wir doch: Wer ist das Subjekt des Glaubens? Wer ist, der glaubt? Es ist die Kirche: die Gemeinschaft der Nachfolger Christi.

Somit ist das Subjekt des Glau/-bens auch Subjekt der Theologie. Was ist Theologie? Sie ist Reflexion über den Glauben und über die gesellschaftlichen Konsequenzen des Glaubens. Ein Mittel, mit dessen Hilfe die Gemeinschaft sich der Frohen Botschaft besinnt, über den Glauben und seine Folgerungen in der konkreten Wirklichkeit nachdenkt, ohne dabei ausdrücklich an das Wort „Theologie“ zu denken.

Volkstheologie

Manche in Europa sagen: „Die Theologie der Befreiung ist nicht kritisch, und deshalb verdient sie nicht die Bezeichnung einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Glauben.“ Aber kritisch ist nicht nur der Akademiker. Christliche Laien, selbst Analphabeten, können oft kritischer über den Glauben nachdenken als viele Theologen mit glänzenden Titeln, die eine naive, bürgerliche und deshalb unkritische Sicht ihres eigenen Glaubens besitzen.

Früher habe ich den Begriff „Volkstheologie“ abgelehnt. Inzwischen habe ich eingesehen, daß ich in Wirklichkeit ein Opfer meiner akademischen oder kulturbedingten Vorurteile geworden bin. Ich verwechselte das kritische Denken mit dem akademischen Denken...

Wenn die Theologie eine Sache des Volkes, ein Produkt des Volkes ist, was ist dann aber die Aufgabe des Theologen?

Ein guter Berufstheologe ist lediglich der Diener des wirklichen Theologen: der Gemeinschaft. Der Theologe Nummer eins ist die

Gemeinschaft der Gläubigen. Wer gläubig ist, der darf und kann über den Glauben nachdenken. Der Berufstheologe hat die Aufgabe, diese Reflexion anzuspornen, sie voranzutreiben und.zu stimulieren. Er soll nicht Theologie lehren, sondern die Menschen lehren, Theologie zu betreiben.

Das Volk tut dies ja bereits. Das Volk ist dabei, sich nicht nur theologische Bücher zu besorgen, sondern auch die Methoden und Griffe anzueignen, wie man Theologie betreibt. Die Menschen wissen, daß es, um Theologie zu betreiben, wichtig ist, die wirkliche Welt zu analysieren. Um aber die wirkliche Welt analysieren zu können, bedarf es bestimmter Konzepte und Theorien. Sie wissen auch, daß es, um die Bibel richtig lesen zu können, wichtig ist zu wissen, wie die damalige Zeit beschaffen war, welche Rolle die Pharisäer spielten, wie es mit der römischen Macht aussah, wer die Imperialisten waren, die das Volk auszubeuten trachteten. Wie von selbst kommt dann das Volk zur Fragestellung, wer wohl heute die Pharisäer, die fremden Herrscher, die Ausbeuter sind.

Tief und klar

Durch das Mitwirken des Volkes wird die Theologie entklerika-lisiert. Sie ist nicht mehr nur das Geschäft von Priestern und Theologiestudenten. Die Theologie wird auch entmaskulinisiert, da sie ja bis heute Domäne der Männer ist... Und eine maskuline Theologie hat ihre ganz bestimmten Kennzeichen: Sie ist eine Theologie des strengen Systems und des kalten Rationalismus. Wie schön, farbig, lebendig, warm und befreiend kann Theologie werden, sobald sich Frauen ihrer annehmen! Es ist schon richtig, daß Paul VI. die heilige Theresia von Avila und die heilige Katharina von Siena zu Theologen und Kirchenlehrern erklärt hat. Es war dies mehr als eine bloße Geste.

Und nicht zuletzt ist es auch wichtig, daß sich die Theologie entbürgerlicht, daß ihre Art und ihre Ausdrucksweise volksnah wird. Das heißt, daß sie an Stelle von abstrakten Begriffen die Bilder, Parabeln und Geschichten der Volkssprache verwendet. Daß sie sich mit einem Wort in eine kommunikative, klare Angelegenheit verwandelt. Hat Jesus jemals so kompliziert gesprochen wie viele Theologen?

Manche sagen: „Dieser Theologe ist sehr tief, weü ihn niemand versteht.“ Ich sage: Ein tiefes Wasser ist immer klar, kann immer klar sein. In einem tiefen Wasser kannst du die Fische, Steine und Algen sehen, es muß nur klar genug sein. In einem schmutzigen Wasser, und sei es nur eine Handvoll Wasser, sieht niemand etwas. Schwerverständlichkeit ist niemals ein Zeichen geistiger Tiefe.

Was Jesus sagte, war tief und klar zugleich. Das macht den Reiz der Evangelien aus. Sie sind so tief, daß der Mensch in ihnen untertauchen kann, ohne einen Boden zu finden. Und je tiefer er sich in die Frohe Botschaft versenkt, umso mehr erlebt er Stunden, in denen es ihm den Atem verschlägt und er gar nicht mehr auftauchen möchte.

Aus: Clodovis Boff: Pode o povo fazer Teo-logia? (Iter, Col. „Perspectiva Teolögico Pastorais) Ubersetzt von Rudolf Schermann.

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