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Ist heile Welt heute am Theater möglich ?

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Ein Großteil des Publikums sucht im Theater den Alltag zu vergessen, möchte in ein Traumreich entführt werden, in dem sich möglichst viele der an das Leben gestellten Wünsche erfüllen. Und vor allem wollen zahlreiche Theaterbesucher im Theater Erhebendes erleben. Sie bemängeln, daß dies heute neue Stücke kaum je ermöglichen. — Die Forderung, auf der Bühne Positives darzustellen, wird mit Nachdruck in der Sowjetunion erhoben. So erklärte der sowjetrussische Schriftsteller Karbabajew, er befleißige sich, ausschließlich über Erfreuliches zu schreiben. Analog verlangte ein Führer der Jungkommunisten in Moskau, daß der positive Held die beherrschende Figur der sowjetischen Literatur zu sein habe. Das ist nun freilich konformistisch auf parteidiktierte Politik hin ausgerichtet und erreicht das Aufführen szenischer Lehrkurse für sowjetisches Verhalten.

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Ein Großteil des Publikums sucht im Theater den Alltag zu vergessen, möchte in ein Traumreich entführt werden, in dem sich möglichst viele der an das Leben gestellten Wünsche erfüllen. Und vor allem wollen zahlreiche Theaterbesucher im Theater Erhebendes erleben. Sie bemängeln, daß dies heute neue Stücke kaum je ermöglichen. — Die Forderung, auf der Bühne Positives darzustellen, wird mit Nachdruck in der Sowjetunion erhoben. So erklärte der sowjetrussische Schriftsteller Karbabajew, er befleißige sich, ausschließlich über Erfreuliches zu schreiben. Analog verlangte ein Führer der Jungkommunisten in Moskau, daß der positive Held die beherrschende Figur der sowjetischen Literatur zu sein habe. Das ist nun freilich konformistisch auf parteidiktierte Politik hin ausgerichtet und erreicht das Aufführen szenischer Lehrkurse für sowjetisches Verhalten.

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Äußerungen, die sich auch bei uns dem weitgehend Negativen in der heutigen Literatur, im heutigen Theater widersetzen, erstreben anderes, zielen auf den Menschen als frei sich entfaltendes sittliches Individuum, nicht auf das Heranbilden staatlich sanktionierter Marionetten. So meinte Albert Camus, man helfe einem Menschen mehr, wenn man ihm ein günstiges Bild seiner selbst vorhalte, als wenn er unablässig mit seinen Fehlem konfrontiert werde. Jean-Louis Barrault erklärte, im Theater gehe es darum, das Leben stärker zu machen. Und auch schon Hermann Broch sprach von einem Ich-Wiederaufbau.

Am bekanntesten wurden die Feststellungen von Emil Staiger, der darauf verwies, daß die Dichter vor Zeiten ihre große Kraft im Erfinden vorbildlicher Gestalten bewährten. Es sei ein romantisches Vorurteil zu glauben, Sittlichkeit habe nichts mit ästhetischem Rang zu tun. Walter Jens vollends plädierte für das Positive in der Literatur, Zartheit und Liebe, Vertrauen und Freundschaft sollen nicht „ein für allemal der dis-

kreditierenden Darstellung von inferioren Poeten Vorbehalten sein.“ Das Gute sei kein Reservat der Mediokrität, es sei nicht zu wünschen, daß „Sitte und Anstand heute Tabus werden, nur weil das Können der Schriftsteller nicht ausreicht“. Ist tatsächlich ungenügendes Können der Grund für die Darstellung des Unerquicklichen, im besonderen auf der heutigen Bühne?

Zweifellos fällt auf, daß die Dramatiker seit geraumer Zeit das Menschenbild fast ausschließlich schwarz in Schwarz malen. Edward Bond zeigt die Ermordung eines Säuglings aus Mutwillen, Wolfgang Bauer führt einen Totschlag vor, der aus Langeweile und Überdruß verübt wird. Harald Mueller läßt Jugendliche Krieg führen, es kommt zu Folterszenen, zum Wühlen in Tiergedärmen. Martin Sperr stellt den Konkurrenzkampf zweier Baufirmen vor, wobei an Niedertracht zusammengetragen ist, was sich nur Zusammentragen läßt. Bei Edward Albee gibt es Damen der guten Gesellschaft, die sich als Callgirls einen Nebenverdienst verschaffen. Harold Pinter läßt die Frau eines Professors, Mutter von drei Kindern, als Dirne der Familie ihres Mannes dienen. Fernando Arrabal bietet Triebe aus dem Inferno des Unbewußten, vom Sadismus und Masochismus bis zum Kannibalismus. Auch in Bühnenwerken von George Tabori und abermals zu nennen — Edward Bond gibt es Kannibalisches. All das sind aber keine Einzelfälle, Unerquickliches, Abscheuliches führen fast alle neuen Stücke vor, soferne sie nicht der Unterhaltung dienen.

Nun gibt es zweifellos auch heute nicht nur Negatives, sondern auch Positives. Wird behauptet, daß man nicht schreien dürfe, wenn ein Spiegel ein unerfreuliches Bild zeige, da er doch Realität spiegle, so läßt sich erwidern, er sei eben falsch, auf Negatives gerichtet. Allerdings hängt das Menschenbild, das auf den Bühnen vorgeführt wird, in allen Zeiten von generellen Erscheinungen ab, die sich als symptomatisch aufdrängen. Es ist aber kaum eine Übertreibung festzustellen, daß das Erfreuliche für die Gegenwart weniger kennzeichnend ist als das Unerfreuliche. Da nun die Welt als „heil“ darzustellen, käme einer Vortäuschung gleich, die, wie Schultze- Vellinghausen erklärte, in die Irre führen würde. Eine Rosafärbung wäre lügenhaft, könnte eine Flucht vor der Realität begünstigen, einen gefährlichen Dämmerzustand herbeiführen.

Ist es aber tatsächlich keine Übertreibung, das heutige Weltbild als reichlich düster zu sehen? Vielleicht muß man es jenen Zeitgenossen, die nichts als ihr kleines Gärtchen kennen und liebevoll betreuen, erst sagen, wie die Welt heute aussieht. Ja, vielleicht gewöhnen wir uns all zu sehr an das Vorhandensein des Ungeheuerlichen. Vielleicht muß man es mit Nachdruck zu Bewußtsein bringen, was sich nahezu Tag für Tag begibt: Massenmorde, Ausrottung ganzer Völkerteile, Kriegsgreuel, Bombenattentate, Banküberfälle. Es sei noch eindringlicher dargetan, daher konkrete Angaben! Die Vergehen und Verbrechen der Jugendlichen unter vierzehn Jahren sind zwischen 1964 und 1969 in der Bundesrepublik von 47.420 auf 66.051 gestiegen, im Jahr 1970 haben sie bereits die Zahl 72.263 erreicht. In Wien zählte man im Jahr 1958 etwa 3000 Diebstähle, Einbrüche und Raubüberfälle, im Jahr 1968 bereits 20.000, in Österreich erhöhte sich die

Gesamtzahl der Verbrechen in dieser Zeit von 37.000 auf 93.000. In den USA wurden in den letzten fünf Jahrzehnten 1200 Morde im Auftrag ausgeführt, das sind durchschnittlich zwei pro Monat. Die Zahl der Verbrechen hat in den Vereinigten Staaten zwischen 1960 und 1970 um 176 Prozent zugenommen. Aus der Sowjetunion erfährt man erstmals, daß die Jugendkriminalistik erschreckend ansteige.

Auch Einzelfälle können eine generelle Situation schlagartig sichtbar machen. Oberleutnant William Calley, wegen der Morde an Zivilisten in My Lai verurteilt, hat zusammen mit dem Schriftsteller John Sack von einem New Yorker Verlag für die Veröffentlichung seiner Memoiren 100.000 Dollar erhalten. Proben brachte bereits der „Spiegel“. Der Mörder Calley, dessen Morde sich bezahlt machten, wird in den USA mehrfach als Held gefeiert. Noch ein Schlaglicht im Zeitalter hemmungsloser Publizistik: Ein nigerianischer Offizier sollte erschossen werden, die Gewehre sind im Anschlag, da bittet der Kameramann eines Fernsehteams mit der Salve noch zu warten bis er einen neuen Film eingelegt hat. Die Bitte wird erfüllt. Die Welt, in der sich all das ereignet, gibt der Bildschirm wider: Die Pädagogische Hochschule Niedersachsen registrierte in einer einzigen Woche im bundesdeutschen Fernsehen die Darstellung von 416 Verbrechen krasser Art. Laut Angaben des Salzburger Medienexperten Prof. Franz Zöchbauer auf einer Fachtagung begehen 84 Prozent aller in Filmen auf dem Fem-

sehschirm agierenden Personen verschiedenste Verbrechen.

Die auffallende Verrohung in den heutigen Stücken, das penetrante Darstellen von Unerquicklichem und sehr oft Abscheulichem auf Sensationsgier zurückzuführen, hieße die Situation mißdeuten. Es ist doch wohl notwendig, daß einer unmenschlichen Menschheit ihre Unmenschlichkeit vorgehalten wird. Auch dann, wenn die Unmenschen nicht im Zuschauerraum sitzen (wir gehören ja dieser Generation an) kann man gewiß keineswegs erwarten, daß alle jene, die terroristische Gewalt ausüben, gesetzt sie würden diese Stücke sehen, sich von ihren Verbrechen abhalten ließen. So bedarf es jedenfalls in unserem Zeitalter, da die am höchsten gefeierten Menschen Massenmörder waren und sind, der Rechtfertigung vor späteren Geschlechtern. Aus dieser Sicht lassen sich wohl entscheidende Impulse der heutigen Dramatik verstehen. Spürt man nun bei einem neuen Stück, daß das Dargestellte als Warnbild dienen soll, daß Giftstoffe herausgeflltert werden, um Gefährliches deutlich sichtbar zu machen, so kann sich durchaus eine positive Wirkung ergeben.

Anders sieht Horvath die Möglichkeit solch einer positiven Wirkung durch kriminelle Geschehnisse auf der Bühne. Sie befriedigen seiner

Ansicht nach durch das Miterleben asoziale Triebe im Zuschauer, der dann über sich selbst gewissermaßen empört sei und in einen Zustand gerate, den man Erbauung nenne. Bietet aber die Bühne, wie heute in so vielen Stücken, penetrant Abstoßendes, so ist es wohl fraglich, ob die Mehrzahl der Zuschauer das Vorgeführte tatsächlich miterlebt. Die wenigen, bei denen dies aus krimineller Veranlagung zutrifft, werden aber kaum über sich empört sein. Würden dagegen im Schwarz in Schwarz tiefere Zusammenhänge erkennbar, könnte wohl auch Dichtung entstehen. Doch gibt es viel eher Stücke, bei denen das Unerquickliche aus Lust daran dargeboten wird. Einzelne Autoren beharren dabei.

Nun kann man fragen, ob es nicht Aufgabe des Dramatikers sei, ein Widerpart des vielfältig andringenden Grauens zu sein, es nicht einfach nur darzustellen, sondern durch Kräfte aus tieferen seelischen Schichten zu überwinden. Dem steht freilich Entscheidendes entgegen. Der Dramatiker erweist sich nämlich, ungleich mehr als jeder andere Schriftsteller oder Kunstschaffende, als ein Exponent der jeweiligen Allgemeinheit, er wird von ihr gespeist, ist von ihr abhängig, selbst wenn er glaubt ein einzelner zu sein, der sich vor ihr abschließt. Nun bieten die heutigen isolierten, in den totalitären Staaten manipulierten, dem tieferen Selbst entfremdeten Menschen nicht jene innere Geschlossenheit, jene Ballung geheimnisvoller Kräfte, die sich im großen Dramatiker zu bedeutungsvollen Bühnenwerken formen kann. Auch wenn er der Allgemeinheit um einiges voraus ist, bedarf er dieses Spannungsreservoirs. Es sei die Vermutung ausgesprochen, daß auch Shakespeare und Schiller in unserer Zeit nicht die Kraft gehabt hätten, Werke von jener geistigen Potenz und Dauerwirkung zu schaffen, wie es ihnen in ihrer Zeit möglich war.

Wohl erst eine neue Beziehung zum Transrationalen vermag wieder große Dramatik erstehen zu lassen. Erst wenn sich die Menschheit ändert, kann sich ihr Bild auf der Bühne ändern. Gibt es dafür Anzeichen und seien sie noch so gering? Man denke an die jungen Menschen, die sich dem Konsumzeitalter widersetzen, in denen wieder Gefühl aufbricht. Optisches Zeichen im männlichen Sektor: lange Haare, blumige Hemden, Fransen an den Hosen, Ketten um den Hals. Sie bieten eine Gegenposition zum materialistischen, rationalistischen Geist unserer Zeit. Auch die eben aufkommende Jesus-Bewegung — wie immer man sie beurteilen mag — gibt zu denken, da hier der Liber - tinage Einhalt geboten wird. Noch läßt es sich nicht sagen, ob sich aus alledem eine Auswirkung auf das Theater ergeben wird.

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