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Ist Italien schon verloren?

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Am 23. Mai wurde Giovanni Falcone ermordet. Wer es noch nicht wußte, erfuhr es am darauffolgenden Tag in den Nachrichtensendungen: Italiens schärfster und tüchtigster Mafiajäger hatte offensichtlich von Anfang an das Schicksal vieler seiner Kollegen zu teilen. Kaum an einem Etappenziel angelangt, taten sich vor ihm neue Abgründe auf, das Aufgabengebiet in den mafiabedrohten italienischen „Risikoregionen" (offizielle Katego-risierung von Sizilien, Kalabrien, Kampanien und Apulien) schien und scheint für Polizei und Justiz unendlich zu sein. Für viele ist Süditalien ein Morast. Verfilzungen und gegenseitige Abhängigkeiten soweit das Auge reicht. Kann man überhaupt leben in den Regionen, die beinahe täglich Schlagzeilen machen und immer mehr zu Synonymen für Kriminalität und Illegalität werden?

Italiens Süden gehört zweifellos zu den schönsten Gebieten Europas. Auch zu den meistkritisierten, in Italien wie im Ausland. Seit Jahren läßt die italienische Presse (besonders die Zeitungen aus dem immer selbstbewußter werdenden Norden) kaum mehr ein gutes Haar am „Mezzogior-no". Studien und Analysen sonder Zahl beweisen die Rückständigkeit des südlichen Drittels des Staates, der in den letzten zwanzig Jahren einen einzigartigen wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg erleben konnte, in seinen politischen Strukturen aber alt und reformbedürftig geblieben ist. Auch der Süden hat zugelegt, die bittere Armut früherer Generationen ist beinahe völlig verschwunden. Geblieben ist aber ein uraltes Denken der Abhängigkeit und Unmündigkeit, der Unselbständigkeit und der schweigenden Duldung der Umtriebe der Mächtigen. Humus für die Mafia. Fruchtbarer Boden für jede Form ungesetzlicher Aktivitäten, von denen viele wissen und über die allzuviele schweigen. Oder doch nicht mehr?

Wer heute in den italienischen Süden fährt, wird einiges verändert finden. Die „omertä", das eiserne, angsterfüllte Schweigen über Vorfälle und Situationen zerbröckelt. Langsam, aber unaufhaltsam. Die immer rücksichtslosere Erpressung weiter Teile der Wirtschaftswelt, die immer gravierenderen Skandale im staatlichen und kommunalen Bereich, die Schießereien und Brandstiftungen, und schließlich die Morde an bekannten und charismatischen Persönlichkeiten wie jüngst an Untersuchungsrichter Giovanni Falcone und vor einigen Monaten am dynamischen Textilunternehmer Libero Grassi bringen das Faß immer mehr zum Überschwappen. Besonders die jüngeren Generationen sind nicht mehr gewillt, zuzusehen und furchtsam abwartend zu schweigen. Anzeigen häufen sich, anonym oder elektronisch verschlüsselt. Immer häufiger greift der kleine Mann zum Telefon, das Vertrauen in die Polizei steigt nach und nach.

Wenig Vertrauen in die Justiz

Das Vertrauen in die Justiz und in die politischen Kräfte freilich geht einem gefährlichen Tiefpunkt entgegen. Einige große Prozesse haben spektakuläre Erfolge gebracht, aber im letzten Jahr erlebte Italien eine beispiellose Häufung von annullierten Urteilen. In oberster Instanz werden winzige Formalfehler festgestellt und monatelange Prozeßarbeit wird über Nacht null und nichtig. Das treibt immer mehr Bürger zu Wut und Verzweiflung, das Gefühl macht sich breit, daß der Staat offensichtlich wenig Interesse daran hat, endlich das organisierte Verbrechen mit modernen Methoden und zeitgemäßen Einrichtungen zu bekämpfen und den ohnehin ökonomisch benachteiligten Südregionen endlich konkrete Hoffnung zu geben.

Hoffnung müssen sich Herr und Frau Rossi weitgehend selbst machen. Und sie tun es auch, soweit sie nur irgendwie dazu in der Lage sind. Interessenvereinigungen, Bürgerlisten und Selbsthilfekomitees werden ins Leben gerufen, man demonstriert in immer kürzeren Abständen vor Präfek-turen und Rathäusern, Jugend- und Studentengruppen organisieren Aktionen zur Sensibilisierung derer, die noch immer nicht die Realität sehen wollen. Auch die Kirche setzt Zeichen. Palermos Erzbischof Pappalar-do predigt seit Jahren gegen die kriminellen Mißstände, seinem Beispiel folgen auch Dorfpfarrer und Schulseelsorger. Italiens katholische Erfolgszeitschrift „Famiglia Cristiana", auch von Nicht-Katholiken gelesen, nimmt immer heftiger gegen Korruption und verbrecherische Organisationen Stellung und nennt Dinge und Personen mutig beim Namen.

All das sind Zeichen der Hoffnung, die das Land in diesen Zeiten dringend braucht. Der Durchschnittsitaliener ist erschüttert wie nie zuvor, eine Mischung aus Scham, Wut und Zorn prägt die Gemüter, und auch Tränen des Schmerzes werden nicht mehr zurückgehalten. Auf dem Titelblatt einer Nummer von „Famiglia Cristiana" war kürzlich ein Carabi-niere-Soldat zu sehen, der beim Begräbnis eines Kollegen bitterlich weinte: Das Foto erlangte traurige Berühmtheit und erschütterte die ganze Nation.

Italien ist noch nicht verloren. Vor allem die herrschende politische Klasse muß endlich ihren Willen zur Effizienz beweisen. Der Ausgang der letzten Wahlen war auch ein deutlicher Auftrag an die Regierung, die teilweise recht ambitionierten Projekte zur besseren Koordination der Ordnungskräfte raschest in die Realität umzusetzen. Ansonsten wird das Land endgültig zum Opfer krimineller Vereinigungen, deren einziges Ziel der Profit um buchstäblich jeden Preis ist.

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