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Ist niemand schuld?

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In Italien erhitzen sich die Gemüter über ein Urteil, das in Visp in der Schweiz gesprochen wurde. Es ging um Schuld oder Unschuld am Tod von 88 Bauarbeitern, vorwiegend italienischen Gastarbeitern, die am 30. August 1965 mit ihren Baracken und all ihren Geräten unter eineinhalb Millionen Kubikmetern Eis vom Allalingletscher begraben wurden. Der für das Lager der an einem Kraftwerksbau beschäftigten Gastarbeiter gewählte Platz zwischen zwei Gletschermoränen hatte als absolut lawinensicher gegolten, und das war er auch — man hatte allerdings nur an Lawinen, also abgehende Schneemassen, nicht aber an die Möglichkeit eines Eissturzes gedacht.

Dabei waren schon 1949, wenige Jahre vor dem Beginn der Kraftwerksprojektierung, 40.000 Kubikmeter Eis vom Gletscher gestürzt und bis ins Tal vorgedrungen — aber da kein Mensch Zeuge dieses Ereignisses gewesen war, hatte sich bei der Planung des Lagers niemand daran erinnert. Vor Gericht prallten die Meinungen aufeinander: Der Staatsanwalt wurde nicht nur von der Verteidigung attackiert, sondern auch in der Öffentlichkeit. Er hatte für die 17 Angeklagten, denen fahrlässige Tötung vorgeworfen wurde, ausschließlich Geldstrafen beantragt. Mag der durch zahlreiche Sachverständigengutachten gestützte Freispruch daher auch korrekt sein, so machen doch diese angesichts von 88 Toten erstaunlich geringen Strafanträge die Empörung in Italien verständlich.

Man ist in Italien überzeugt, daß der Freispruch unter anderem darauf zurückzuführen ist, daß „nur“

Italiener ums Leben kamen. Nahezu die gesamte italienische Presse ist der Meinung, dieses Urteil sei ein Skandal.

Das sozialistische Organ „Avant:“ bezeichnet es auf der ersten Seite bereits im Titel als skandalös. Im Inneren des sozialistischen Blattes heißt es: „Der Gerichtshof hat im großen ganzen dem Wink der Verteidigung Achtung verschafft. Er kann auf den folgenden Nenner gebracht werden: Wenn ihr die Verantwortlichen der Mattmark-Katastrophe verurteilt, werden die Versicherungsgesellschaften zum Schaden der in den Alpen stationierten Betriebe ihre Prämien massiv erhöhen, verschont ihr sie, so können die Versicherungs- und damit Produktionskosten niedrig bleiben. Das Gericht hat den harten Brocken geschluckt und die Täter freigesprochen. Dies ist der niederschmetterndste Aspekt dieses Urteils.“

Der Sozialist Libero della Britta faßte die Empörung seiner Partei in folgende Worte: „Man kann das Verdikt nicht anders als skandalös bezeichnen, wie jede Konzeption des Menschen als bloßes Werkzeug der Produktion Ausdruck eines himmelschreienden Unrechts ist... Geld und Anliegen der Produktion kommen an erster Stelle... Es geschah bereits in Vajont und in Mattmark geschah es wohl nicht zum letzten Mal.“

Ins gleiche Horn stößt der Leiter der Auslandsabteilung der sozialistischen Partei, Luciano de Pascalis: „Das Urteil muß im Zeichen der allgemeinen Abneigung, um nicht zu sagen des Hasses, der Schweizer gegenüber den Ausländern gesehen werden. Von den Fremden wird alles verlangt und nichts anerkannt. Während das Vereinigte Europa längst steht, bleibt die Schweiz den Denkweisen und Vorurteilen der Vergangenheit verhaftet. Dieses Versagen hat das politische Establishment auf dem Kerbholz. Angesichts der betrüblichen Ereignisse von Mattmark erhoffen wir uns von den schweizerischen Sozialisten im

Namen der europäischen und internationalen Solidarität einen entschlossenen demokratischen Kampf zugunsten der ausländischen Arbeiter.“

De Pascalis' Kollege von der Abteilung für Auswanderung sieht im Entscheid des Oberwalliser Gerichtes einen „Beweis für eine deutliche Neigung der Schweizer Justiz, die Interessen des Kapitals auf Kosten der Anliegen der Arbeiter zu retten“. ......

Während der italienische Ministerrat über den Mattmark-Prozeß keine Meinung verlauten ließ, und sich auch die Tagesschau der staatlichen Radiotelevisione jeglichen abschätzigen Kommentars enthielt, nimmt nach Angäben des „G.-T.“-Korrespondenten des Corriere della Sera das in Bern akkreditierte Mitglied der italienischen Botschaft Migneco an, daß die Zivilparteien im Mattmark-Prozeß jetzt nicht darum herumkommen, den Instanzenweg zu beschreiten, um ein gerechteres Urteil zu erwirken: „Es gilt, unsere Arbeiter vor ähnlichen Katastrophen zu schützen. Uns beunruhigt die Frage, was man in der Schweiz künftig unternehmen wird, um das Leben der italienischen Arbeiter in den Bergen zu garantieren.“

In den Augen des ehemaligen Präsidenten des italienischen Verfassungsgerichtshofes, Branca, ist das Urteil, „soweit man es aus der Ferne beurteilen kann, von Grund auf ungerecht für jedes Opfer der Tragödie und alle, die Sinn haben für Gerechtigkeit und Menschlichkeit. Die Gefahr der Katastrophe ... war vorhersehbar, und darum um so größer die Schuld der Angeklagten. Doch die Schweiz ist die bloß formelle Demokratie eines Volkes, das besonders am Geld hängt. Ob es ihr paßt oder nicht: seine Justiz muß dieser Tendenz Rechnung tragen.

Scharzenbach-Mentalität?

Bemerkenswert der Kommentar in „La Voce Republicana“, dem Sprachrohr der kleinen, aber vielbeachteten republikanischen Partei: „Wir wollen weder jemanden verletzen, noch uns in die Angelegenheit eines anderen Landes einmischen, doch dieses Urteil ist eines kultivierten Landes unwürdig. Mattmark war ein großer Schandfleck in der Sozialgeschichte des benachbarten und befreundeten Landes. Hunderte von Zeugenaussagen bestätigten es: die Katastrophe war das Ergebnis einer gigantischen Verantwortungslosigkeit ... Die Angeklagten konnten nur verteidigt werden mit einer Mentalität nach Art von Schwarzenbach.“

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