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Ist Österreichs Vergangenheit bewältigt

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Die österreichische Jugend erfährt an den Schulen nur wenig über Österreichs neuere Geschichte. Das Judentum wird an den österreichischen Schulen, sehr zum Unterschied von den Schulen der deutschen Bundesrepublik, völlig ignoriert. Dabei besteht für dieses Thema großes Interesse.

Der hier besprochene Sammelband sollte vor allem Lehrern eine Grundlage für die Besprechung des Judentums im Klassenzimmer bieten. Die Beiträge von Kurt Schubert über „Die Voraussetzung. Von der Entstehung des Judentums bis zum Ende des ersten Jahrtausends n. Chr.“ und „Das Judentum in der Welt des mittelalterlichen Islam“, von Anna M. Drabek über „Judentum und christliche Gesellschaft im hohen und späten Mittelalter“ und von Nikolaus Vielmetti „Vom Beginn der Neuzeit bis zur Toleranz“ sind von beispielhaft hohem Niveau. Sie werfen jedoch wenig Licht auf Österreichs neueste Geschichte und

sind für den Schulgebrauch möglicherweise zu anspruchsvoll.

Wolfgang Häuslers Kapitel über „Toleranz, Emanzipation und Antisemitismus. Das österreichische Judentum des bürgerlichen Zeitalters (1782—1918)“ bietet eine umfassende Übersicht auf Grund einer Fülle von Fakten. Hier wäre eine größere Selektion vorteilhaft. Außerdem erscheinen etliche Auffassungen des Autors als anfechtbar. So bezeichnet er den Zionismus als „Nationaljudentum“ und übersieht dessen religiöse Wurzeln. Auch übersieht er die wesentlichen Unterschiede zwischen dem volkstümlichen Antisemitismus eines Lueger und dem Rassenantisemitismus eines Schönerer, die von Historikern wie Hanna Arendt und Peter Pulzer mit Recht betont werden und die für historisches Verständnis grundlegend sind.

Ein Beitrag zur Bewältigung von Österreichs politischer Vergangenheit müßte sich vor allem auf die

Zeit zwischen 1918 und 1955 konzentrieren. Das trifft besonders auf einen Beitrag über die Judenfrage zu. Die vierundzwanzig Seiten des Beitrages von Karl Stuhlpfarrer über „Antisemitismus, Rassenpolitik und Judenverfolgung in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg“ bieten jedoch nur ein unübersichtliches Gewirr von isolierten Fakten, Zitaten von marxistischen Theoretikern, Ausdrücke moralischer Entrüstung und dozierende Widerlegung antisemitischer Thesen. Letztere stammen meist von obskuren neulinken Akademikern, die, ähnlich den hier zitierten Marxisten, eine Lösung in der Assimilation sehen. Während der Autor mit Quellenangaben frei-giebig ist, hat er es unterlassen, anzugeben, wo und wann der austromarxistische Theoretiker Otto Bauer die Juden als ein „geschichts-loses Volk“ bezeichnet hätte. Hier

scheint es sich um ein Mißverständnis des Autors zu handeln. Dem an ti jüdischen NS-Terror widmet Stuhlpfarrer zehn Seiten. Auch hier sind sittliche Entrüstung und proto-linke Ausdrucksweise ein mangelhafter Ersatz für seriöse wissenschaftliche Arbeit.

Es ist zu hoffen, daß den österreichischen Schulen baldigst Material über Österreichs politische Vergangenheit zur Verfügung stehen wird. Das hier besprochene Buch kommt jedoch nur als Sekundärquelle in Betracht. Vor allem die Behandlung der Zeit seit der Jahrhundertwende ist unbefriedigend.

DAS OSTERREICHISCHE JUDENTUM — VORAUSSETZUNGEN UND GESCHICHTE. Herausgeber: Nikolaus Vielmetti. Verlag für Jugend und Volk, Wien-München, 1974.

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