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Ist Sozialismus vollendete Demokratie?

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Die von Josef Taus begonnene Grundsatzdiskussion hat voll eingesetzt. Ihr Ziel ist scharf Umrissen: „Klarheit über Ziele und Absichten der politischen Parteien kann nur aus einer dauernden Grundsatzdiskussion gewonnen werden, die immer wieder dazu zwingt, die eigene Position zu bestimmen, die aber auch die politischen Konkurrenten dazu zwingt, ständig ihre Position bekanntzugeben.“ Die Grundsätze der ÖVP sind im Salzburger Grundsatzprogramm 1972 verankert. Die SPÖ geht daran, ihr Wiener Programm von 1958 zu erneuern. Fragestellungen hiezu hat eine Expertengruppe um Prof. Egon Matzner erarbeitet. Dieser hat in seinen „Notizen zur Gesellschaftsreform“ seine eigenen Grundsätze für ein zeitgemäßes sozialdemokratisches Parteiprogramm skizziert. Die Abkehr von den zentralen Werten des Wiener Programms ist dort augenfällig, die Annäherung an einige Grundwerte der christlichen Demokratie und des Liberalismus erstaunlich. Eine Revision der Werte und Positionen des Wiener Programms scheint bevorzustehen. Oder doch nicht? Im theoretischen Organ der SPÖ las man anderes; auch vom Parteivorstand hörte man, daß an den Grundpositionen des dem „demokratischen Marxismus“ verpflichteten Wiener Programms nichts geändert würde, wohl aber der Teil des Programms, wo es um die Verwirklichung, die Umsetzung dieser Werte in die Wirklichkeit gehe.

Gerade die Diskussion dieser Grundwerte scheint aber vordringlich: Während die einen Sprecher der SPÖ das Programm als historisches Dokument, also als durch die Zeit überholt, qualifizieren, betrachten es andere nach wie vor als uneingeschränkt verbindlich.

Vermeidet die SPÖ wirklich die Auseinandersetzung um ihre eigenen Grundsätze, so wäre dies ein Zeichen der Schwäche: zwischen dem rechten Flügel der Partei und ihrer Linken könnten ideologische Richtungskämpfe ausbrechen, welche dem vordergründigen Pragmatismus der Partei gefährlich werden könnten. Damit bestätigt sich einmal mehr ein bekanntes Paradoxon: Parteien, die an der Macht sind, unternehmen alle Anstrengungen, um jene Grundsätze zu verschleiern, deren Verwirklichung sie ihren Anhängern versprochen haben, und gehen jeder Diskussion um diese Werte aus dem Weg: ihre Politik soll als Sachpolitik und nicht als Gesellschaftspolitik gelten. Das Schielen nach der Mehrheit, welche durch marxistische Grundsatzdiskussionen verschreckt werden könnte, steht im Hintergrund.

Die zentrale Frage ist: wird der Satz „Sozialismus ist vollendete Demokratie“ weiter im sozialistischen Parteiprogramm stehen? Wird die damit versteckt verbundene Abwertung aller anderen zurückgenommen? Oder wird zumindest das „Demokratieverständnis überprüft“? Eine knappe Analyse dieses Satzes soll verdeutlichen, warum gerade diese Frage für so wichtig erscheint.

Die Unterschiede zwischen dem Kommunismus und dem Sozialismus liegen hauptsächlich in den Mitteln, nicht in den Zielen. Diese sind teilweise deckungsgleich, sind marxistischen Ursprungs. In seinem Bericht über den Vorentwurf für ein neues Parteiprogramm (das spätere Wiener Programm 1958) sprach Benedikt Kautsky vom „demokratischen Marxismus“. Die Methoden zur Verwirklichung dieser Ziele sind unterschiedlich, beim Sozialismus demokratischer Prägung wird versucht, sie im Wege des Parlamentarismus und unter Beachtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten ebenso wie der Grundsätze der Demokratie zu erreichen. Aber welcher Demokratie?

Der Sozialismus hat sich mit der Demokratie stets eng verbunden gefühlt. Dies hat historische Gründe. Im Zeitalter der Monarchie konnte der Sozialismus nur auf Durchsetzung rechnen, wenn das demokratische Sy stem eingeführt würde. In der Zwischenkriegszeit war der Spruch bekannt: „Demokratie, das ist nicht viel. Sozialismus ist das Ziel“. Auch im Godesberger Programm der SPD findet sich „Sozialismus wird nur durch Demokratie verwirklicht, die Demokratie durch den Sozialismus erfüllt“. Kreisky hat auf dem Villacher Parteitag 1972 und seither stets die totale Gleichsetzung von Demokratie und Sozialismus behauptet.

Dies bedeutet aber, daß auch heute noch in der Sozialdemokratie die Auffassung vertreten wird, Sozialismus und Demokratie seien identisch. Diese Gleichsetzung hat nicht nur historische Gründe, sondern auch taktische: der allgemein positiv eingestufte Begriff Demokratie soll auch in der öffentlichen Meinung mit Sozialismus identifiziert werden.

Ähnliche Bemühungen sind aus dem anderen marxistischen Lager, dem Kommunismus, bekannt. KPÖ- Chef Franz Muhri zitierte 1976 Breschnew: „So, wie wahre Demokratie ohne Sozialismus unmöglich ist, ist auch der Sozialismus unmöglich ohne ständige Entwicklung der Demokratie“. Hier soll nicht die rote Katze aus dem, Sack gelassen werden, sondern nur auf die Möglichkeiten hingewiesen werden, die ein solcher Satz bietet.

Drei Auslegungen dieses Satzes sind möglich: Die erste Auslegung ist die harmloseste: Wenn der Sozialismus eingerichtet ist, dann wird auch Demokratie sein. Die zweite ist schon wesentlich vielschichtiger: Erst wenn der Sozialismus eingerichtet ist, ist die Demokratie wirklich vollendet. Nur der Sozialismus ermöglicht Demokratie.

Die dritte Auslegung entspricht wahrscheinlich am ehesten der dialektischen Geschichtsauffassung marxistischer Prägung: Wenn Demokratie wirklich hergestellt ist, also die demokratische Ordnung verwirklicht ist, so führt diese Ordnung zwangsläufig zum Sozialismus. Im Hintergrund dieser Auslegungen steht der Totalitäfs- anspruch des Sozialismus.

Dieser Anspruch ist an sich mit der Zielsetzung der Demokratie klassischer Prägung nicht zu vereinen. Die Demokratie läßt sich nicht mit einerbestimmten Gesellschaftsphilosophie allein identifizieren. Die Demokratie soll ermöglichen, daß Mehrheiten regieren, aber auch sich ändern. Wenn Sozialismus und Demokratie identisch wären, würde dies bedeuten, daß die demokratische Entwicklung zwangsläufig zum Sozialismus führen würde. Das ist aber mit dem demokratischen Wechselspiel unvereinbar.

Der demokratische Sozialismus ist in der Selbstdefinition geprägt durch die klassenlose Gesellschaft, die Zentralverwaltungswirtschaft, die materielle Gleichheit, durch Mitbestimmungsmodelle auch im nichtstaatlichen Bereich, durch die Beanspruchung eines messianischen Systems, ddr richtigen Philosophie u. a. m.

Demokratie wird nach klassischer Auffassung damit gleichgesetzt, daß die Mehrheit über die Minderheit herrscht, daß ein Mehrparteiensystem besteht, daß ein Wechsel von der Mehrheit zur Minderheit stets möglich ist, daß die Minderheit von der Mehrheit geschützt ist und daß Freiheitsrechte im Menschen angemessenerweise gewährleistet Werden.

Wer heute also noch die Einheit von Sozialismus und Demokratie vertritt, kann dies logisch nur dann tun, wenn er entweder den oben umrissenen Postulaten des Sozialismus abschwört, oder einen anderen als dem klassischen Demokratiebegriff anhängt.

Ich glaube kaum, daß die SPÖ auch nur eine einzige dieser Thesen des Sozialismus fallen lassen kann - gerade diese Diskussion will sie ja offensichtlich nicht führen, diesen sichtbaren Schnitt nicht anbringen, „um die Parteieinheit nicht zu gefährden“. Dann aber haben wir alle zumindest das Recht, mehr über das Demokratieverständnis zu erfahren: wie stellt man sich eine pluralistische freiheitliche Demokratie vor, die nur ein einziges unabwendbares Endziel kennt, den Sozialismus?

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