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Italien auf dem Weg zur Zweiten Republik?

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Schon seit über zwei Jahren kursiert das Schlagwort von der Zweiten Republik quasi als magische Zukunftsperspektive im Apenninenland. Seitdem ein Referendum im Frühjahr 1991 das System des Vorzugsstimmenfächers abgeschafft beziehungsweise durch das Ankreuzen nur einer Präferenz ersetzt hat.

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Schon seit über zwei Jahren kursiert das Schlagwort von der Zweiten Republik quasi als magische Zukunftsperspektive im Apenninenland. Seitdem ein Referendum im Frühjahr 1991 das System des Vorzugsstimmenfächers abgeschafft beziehungsweise durch das Ankreuzen nur einer Präferenz ersetzt hat.

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Die Politiker und Parlamentarier murrten zwar, doch sie mußten sich dareinfinden. Dann deckte am 17. Februar 1992 der Mailänder Untersuchungsrichter Antonio Di Pietro, inzwischen als „Saubermacher der Nation” zum Volkshelden geworden, erstmals die kolossale Schmiergeldaffären sämtlicher herkömmlichen Parteien auf, vor allem der Christdemokraten (Democrazia Cristiana/DC) und der Sozialisten (Partito Socialista Italiano/PSI).

Der Schock darüber in der Bevölkerung hatte zur Folge, daß bei den Parlamentswahlen im April letzten Jahres die bis zum Hals im Korruptionskampf steckenden politischen Gruppierungen arg Federn lassen mußten, hingegen die inzwischen neu in Erscheinung getretenen sogenannten Protestbewegungen ansehnlichen Konsens von seiten der Wähler verbuchen durften. Vor allem die in der Lombardei entstandene antizentrali-stische Lega Nord konnte sich mit landes weit über acht Prozent der Stimmen schlagartig als viertstärkste Fraktion in Roms Abgeordnetenhaus und Senat behaupten, (siehe Seite 3)

Die Regierungsführung übernahm ein unbescholtener Sozialist, Giulia-no Amato, und zum Staatsoberhaupt wurde ein christlichdemokratischer Außenseiter, Oscar Luigi Scalfaro, gekürt. Wenn auch verdünnt, schien sich das Establishment doch einigermaßen gefangen zu haben.

Indes, mehrmals seither hat Scalfaro eine infolge der sich häufenden und zuspitzenden Mißstände drohende Staatskrise abgewendet. Als oberster Hüter der Verfassung eisern davon überzeugt, daß die Institutionen der Republik von 1948 bewahrt bleiben müssen, sucht der Präsident dennoch, das Staatsschiff umsichtig in einen neuen Zeitraum der Reformen zu steuern. Graduelle Umgestaltung ja. Aber Zweite Republik? Nein, das nicht. Scalfaros Sinn steht nicht danach. Trotzdem ging und geht der Umbruch in Italien unaufhaltsam weiter.

In einem weiteren Referendum, am 18. April dieses Jahres, befürwortete der Volkswillen mit überwältigender Mehrheit die Einführung des Mehr-heitswahlrechts. Zur Zeit ist das Parlament damit beschäftigt, die betreffende Vorlage mühsam auszufeilen. Sie soll bis August perfekt sein. Unterdessen bereiten die jüngsten Kommunalwahlen vom Juni den Regierungsparteien, allen voran DC und PSI, die bisher bitterste Niederlage. Denn auf der einen Seite wurde die gezielt auf Föderalismus setzende Lega Nord auf Anhieb stärkster politischer Block in Oberitalien, während auf der anderen Seite die Partei der früheren Kommunisten, die linksdemokratische PDS, weite Teile bis Mittelitalien eroberte.

Und nun schlägt für die Christdemokraten und Sozialisten gewissermaßen die Stunde Null. Nachdem DC-Sekretär Mino Martinazzoli seinen Rücktritt erwogen hatte, ließ er sich von seinen nächsten Mitarbeitern umstimmen.

Für die zweite Julihälfte hat er die Parteigremien zu einer „konstituierenden Versammlung” zur Reorganisation der DC einberufen. Sogar die Namen der Partei will Martinazzoli ändern, aber daran erhitzen sich die christdemokratischen Gemüter bis zur Glut. Amintore Fanfani, einer der ganz wenigen von der leitenden Garde der DC, dem nichts angelastet wurde, mahnte kürzlich im Zeitungsinterview „nicht nur Eile ist geboten, vielmehr muß Lehrgeld gezahlt werden, ansonsten scheitern wir (die DC) endgültig”.

„Lehrgeld zahlen”

Die Zukunft der Democrazia Christiana sieht mittelfristig jedenfalls düster aus. Innerhalb eines Jahres hat sie über ein Drittel ihrer Gefolgschaft eingebüßt. Und kein noch so heilsamer Reinigungsprozeß wird die DC je wieder zu dem machen, was sie einst war: Die seit fast einem halben Jahrhundert unbegrenzt machtausübende Zentralpartei Italiens, um deren Achse sich sämtliche politische Kombinationen, Verbindungen, Koalitionen drehten.

Steht der DC das Weinen näher als das Lachen, so ist dieses den Sozialisten schon längst vergangen. Faktisch in Trümmern liegend, wird die PSI am 20721. Juli in einer „programmatischen Convention”, danach in einem Sonderkongreß im Herbst, die Lehre aus ihren Kapitalfehlern der Vergangenheit zu ziehen und einen neuen Anlauf zu nehmen versuchen. Das zersplitterte Gefüge der PSI so oder so zusammenzuhalten, strengt sich ihr politischer Leiter, der zähe frühere Gewerkschaftsboß Ottaviano Del Turco, redlich an. Doch scheinen ihm die Bemühungen, die durch die Bestechungsskandale entweder betroffenen oder erschütterten, infolgedessen auseinanderstrebenden Gruppen in der Partei wieder unter einen Hut zu bringen, zu entgleiten. Vielmehr droht der Linke Flügel der PSI mit Abspaltung.

Bereits tönen aus der unmittelbaren Nachbarschaft eindringlich die Drohungen der PDS, die die Mandate der möglichen sozialistischen Abtrünnigen sowie damit zusammen die anderer Kleinfraktionen der Linken zu beerben oder zumindest an sich zu ketten hofft. Es ist ja das erklärte Ziel des PDS-Chefs, Achille cchetto, in der linken Hälfte der Kammern einen handfesten Zusammenschluß aller dort ansässigen „progressiven” Fraktionen, Vertretungen und Grüppchen als Alternative zur Lega und auch zur DC herzustellen. Damit ist aber nicht die ganze PDS einverstanden. Wie seine Kollegen der anderen Parteien hat auch Occhetto ständig gegen innerparteiliche Spannungen und Streitigkeiten anzukämpfen.

Allein, sowohl PDS als erst recht DC und PSI werden es immer schwerer haben, im Norden des Landes der siegreichen Lega die Stirn zu bieten.

Nolens volens, von Piemont bis Friaul weht der Wind der Autonomie, deren Fata Morgana vielerorts in den oberitalienischen Regionen schon über die Hälfte der dortigen Bevölkerung begeistert.

Daher schickt sich die Lega an, ein orientierungspolitisches Programm für eine „Bundesrepublik Italien” auszuarbeiten, mit dem sie dann die „überlieferten” Parteien bis zum äußersten konfrontieren wird.

Unfähiges Rom

Rom ist währenddessen offensichtlich nicht imstande, das Novum aus dem Norden zu begreifen. Sich - trotz des Exitus des bisherigen abgewirtschafteten Parteienregimes - von der Grundeinstellung des altgewohnten, autoritären, über alles gebietenden Zentralstaats zu lösen, ist in der Hauptstadt ein Tabu.

Selbst jene paar gescheiten Köpfe und vernünftigen Stimmen, die wenigstens für eine gewisse Dezentralisierung zugunsten eines verstärkten Regionalismus plädieren, verhallen ungehört. Höchstwahrscheinlich wird im Frühjahr des nächsten Jahres ein neues Parlament mit dem Mehrheitssystem gewählt.

Es ist jetzt schon vorauszusehen, daß die Lega Nord darin etwa doppelt soviel Sitze als gegenwärtig einnehmen wird. Und danach dürfte - Zweite Republik hin, Zweite Republik her -das Problem eines mehr oder minder einschneidenden Umbaus des Italienischen Staats nicht mehr zu umgehen sein.

Nach Jahrzehnten der stickigen politischen Immobilität ist Italiens Wählerschaft hellwach geworden.

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