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Jänos Vargha oder ein Leben in Stichworten

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Vargha, Jänos, geboren 1879 in Nädundvar, Ungarn, gestorben 1945 an den Folgen eines Fliegerangriffes in Budapest, war das siebente Kind eines besitzlosen Bauern, dessen Urahnen allerdings im 17. Jahrhundert im Rahmen der Nobilitierung von fünftausend Heiducken3” durch Istvän Graf Bäthori, Fürst von Siebenbürgen, in den Adelsstand erhoben worden waren. Während der Erntezeit war der Vater als Schnitter beschäftigt, sonst verrichtete er Gelegenheitsarbeiten und wurde als Kutscher und Pferdekenner geschätzt. Obwohl er sich nicht schonte, brachte er es nie soweit, seine Kinder mit Schuhwerk zu versorgen. Im tiefen Winter konnte Jänos Vargha die Elementarschule nicht besuchen; bei Schlechtwetter, auch bei leichtem Schneefall, machte er sich aber stets auf den Weg. Mit neun Jahren zog er sich bei einem Schulbesuch Erfrierungen am linken Fuß zu, die ihn bis zu seinem Lebensende quälten.

Als Stallbursche, Gehilfe eines Schweinehirten und gelegentlich als berittener Botftngänger der Gutsverwaltung konnte er bald selbst sein Brot verdienen. Als Edelmann hielt er auf Treue, Aufrichtigkeit und gute Haltung; er galt bei seinen Vorgesetzten als verläßlich. Da er eine schöne Stimme hatte und sonntags im calvi-nistischen Kirchenchor sang, wurde er zudem vom Pastor gefördert.

Während des Ersten Weltkrieges diente er die längste Zeit, zuerst in Rußland, dann an der Isonzo-Front, als Bursche eines Oberleutnants, der ihm 1921 die Stelle eines Amtsdieners verschaffte. Als Beamter des königlichen Ackerbauministeriums konnte er ans Heiraten denken und ehelichte mit vierundvierzig Jahren die um zwanzig Jahre jüngere Borbä-la Fekete. Sie war zu diesem Zeitpunkt im Haushalt des Häusermaklers Pal Kornat Kohn als Köchin beschäftigt, gehörte aber ebenfalls dem Heiduckenadel an. Von da an erschien Jänos Vargha täglich mit einem Essenträger - einem kleinen tragbaren Metallgestell, in dem drei emaillierte Töpfe Platz hatten - im Ministerium, machte sich auf der Platte des Kanonenofens die wohlschmeckenden Speisen warm und konnte manchmal seine ärmeren Kollegen zur Mittagszeit sogar bewirten. Das von seiner Frau vorbereitete Fußbad linderte abends seine Schmerzen.

Eine weitere Besserung der Lebensverhältnisse trat ein, nachdem Jänos Vargha ins Haus des Schneidermeisters Ignäc Wirth als Hausmeister einziehen konnte. Auch hier halfen ihm die Treue, die Verläßlichkeit und die gute Haltung eines Edelmannes. Unter den Kunden des Schneiders befanden sich nämlich Konzipisten und sogar einige höhere Beamte des Ackerbauministeriums. Ihnen klagte der Schneidermeister die Unverschämtheiten seines trunksüchtigen Hausmeisters Vince Kiss, der nachts das Tor nicht aufschloß, die Stiegen nicht wusch und die Wohnparteien, sofern sie seinen unberechtigten Geldforderungen nicht Folge leisteten, unflätig beschimpfte. Endlich fiel einem Herrn der Amtsdiener Jänos Vargha ein, der sich dann tatsächlich bereit erkälte, den Posten zu übernehmen.

Der Zustand des Ehepaars Vargha war von nun an zufriedenstellend. Eine vorübergehende Störung trat ein, als sich Frau Vargha iri einen Untermieter emstlich verliebte, doch fand die Beziehung mit dem Quartierwechsel des jungen Mannes bald ein Ende. Jänos Vargha tat, als hätte er nichts bemerkt.

Die beiden Töchter des Ehepaares hießen Borbäla und Eszter. Die Ältere heiratete zum Verdruß ihrer Eltern einen Mann, der zwar Lehrer, aber nicht adelig, zudem auch noch katholisch war und leicht hinkte. Die Jüngere befand sich während des Bombenangriffs, der ihren Vater zu Tode brachte, gemeinsam mit ihrer Mutter im Luftschutzkeller.

Da Jänos Vargha im Jahre 1944, fünfundsechzigjährig, in Pension ging, hielt er sich auch tagsüber in der Hausmeisterwohnung auf. So konnte er am 19. Oktober 1944 seine Treue, seine Verläßlichkeit und seine gute Haltung zum letzten Mal unter Beweis stellen. Vier Tage zuvor hatten in Ungarn die Pfeilkreuzlerdie Macht ergriffen. Eine ihrer bewaffneten Gruppen - eine schießwütige, räuberische Schar des übelsten Pöbels -schickte sich an, auf der Jagd nach Juden auch Wirths Mietshaus zu durchsuchen.

In verschiedenen Wohnungen befanden sich zu dieser Zeit hausfremde Personen, die für Jänos Vargha als Menschen in Bedrängnis zu erkennen waren. Folglich fragte er nicht nach ihren Dokumenten. Zudem hielt sich eine Frau christlicher Abstammung, aber jüdischen Glaubens und eine wirkliche Jüdin mit Varghas Wissen und Duldung im Haus verborgen: Die Mutter des Hausherrn, Adel Deutsch, hatte im Dienstbotenzimmer ihrer Wohnung ihre alte Freundin, die schöne Therese Weiss einquartiert, die, auf einen Spazierstock gestützt und für die allgemeinen Verhältnisse auffällig gekleidet, täglich einen Spaziergang unternahm.

Angesichts der Banditen beschloß Jänos Vargha, zu einem bewährten Mittel der militärischen Strategie zu greifen und die wirkliche Übermacht durch eine noch mächtigere, allerdings nur vorgetäuschte Ubermacht zum Rückzug zu zwingen. Sobald er das be-drohl iche Pochen am verschlossenen Haustor vernahm, schlüpfte er in Windeseile in seine dunkelblaue Uniform eines Amtsdieners des königlichen Ackerbauministeriums, stülpte sich die steife Amtskappe auf den Kopf und trat den Eindringlingen mit der zornigen Würde eines staatlich befugten Edelmanns entgegen: „Sie wollen?” Die zackigen Sätze des Anführers klangen schneidend. „Sie haben zu diesem Haus keinen Zutritt”, entgegnete Jänos Vargha. Er strich über seinen gezwirbelten Schnurrbart. „Der Zutritt ist amtlich verboten.” Manche in der Schar lachten, manche riefen: „Was soll der Alte?! Also: Vorwärts!” Allein der Anführer fragte: „Wieso?” Sein Gesicht war bleich geworden vor Zorn und vor Angst, angesichts all der bewaffneten Burschen seine Autorität zu verlieren. „Befehl des Führers”, sagte Jänos Vargha ruhig. „Wissen Sie nicht, wo Sie sind?!” Und da nun alle verstummten, näherte er seinen Schnurrbart dem Ohr des Anführers und flüsterte: „Vertrauliche Konferenz. Der Führer und Seine Exzellenz. Ich rate, nicht zu stören.” Das genügte.

Tochter Borbäla erlebte nach 1949 an der Seite ihres Mannes einen gesellschaftlichen Aufstieg; der hinkende katholische Lehrer wurde zum Anhänger des Stalinismus, bekleidete verschiedene glanzvolle Ämter und zog sich erst als alternder Mann, griesgrämig und alle belehrend, aus dem politischen Leben zurück. Der einzige Sohn des Ehepaares lebt in Kanada. Eszter Vargha besuchte die Lehrerbildungsanstalt, unterrichtete an verschiedenen Schulen, heiratete dreimal, hatte aber noch öfter Beziehungen zu bekannten Dichtem. Ihre Gestalt hat in der ungarischen Lyrik eine gewisse Unsterblichkeit gewonnen.

*Die Heiducken waren Freischärler. Aufgetaucht sind sie während der Türkenkriege im 16. Jahrhundert. Die Türken haben viele Dörfer vernichtet. Deshalb irrten viele junge Männer ratlos umher; dazu kamen Desserteure verschiedener Armeen und jene, diedie Türken als Sklaven nach Konstantinopel schaffen wollten, und die fliehen konnten. Sie fanden sich zusammen und bildeten eine kriegerische Truppe von fast 10.000 Männern, die auf eigene Faust kämpften. Endlich wurden sie von einem Fürsten von Siebenbürgen angesiedelt und kollektiv geadelt, was bedeutete: sie bekamen Ländereien und Steuerfreiheit sowie ein Wappen, mußten aber unbesoldet kämpfen und sich selbst versorgen. (Aus einer brieflichen Mitteilung G. Sebestyens an Helga Blaschek-Hahn.)

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