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Japan-Wunder ist kein Zufall

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Wer vom Tokyo Tower, dem japanischen Eiffelturm, den Beton-Ozean dieser ungeheuerlichen Stadt überblickt, oder wer sich gar in die winkeligen Gäßchen der zahllosen Vorstädte wagt, könnte hier eine Brutstätte des Verbrechens, ein Super-Chicago vermuten. Doch Tokio zählt zu den sichersten Großstädten der Welt.

Wer die drangvolle Raumnot, den geringen Wohnkomfort und die hohe Arbeitsbelastung in Betracht zieht, mag daraus schließen, daß hier niemand alt werde. Doch Japan zählt zu den Ländern mit der höchsten durchschnittlichen Lebenserwartung.

Wer bedenkt, daß hier die Automatisierung weiter getrieben ist als in den übrigen Industriestaaten, würde eine enorme technologische Arbeitslosigkeit erwarten. Doch die Unterbeschäftigung bildet kein vordringliches Problem.

Über diese .japanischen Wunder“ habe ich oft mit Japanern gesprochen, aber keine recht befriedigende Antwort erhalten. Die unauffällig, aber sehr wirkungsvoll arbeitende Polizei kann höchstens eine der Ursachen der niedrigen Kriminalitätsrate sein, und die physischen Anlagen sowie die planmäßige Abhärtung - auch an den kältesten Tagen gingen die Schulkinder in kurzen Hosen oder Röcken mit Kniestrümpfen - erklären allenfalls teilweise die Langlebigkeit. Gewiß weichen viele Arbeitskräfte vor der Rationalisierung der Industriebetriebe in den Dienstleistungssektor aus, doch kann die geringe Arbeitslosigkeit kaum darauf allein zurückzuführen sein.

Viele Fragen bleiben für den Besucher dieses noch immer irgendwie rätselhaften Landes offen. Aber er kann doch manches beobachten und anderes wenigstens vermuten. Auffallend sind Disziplin und öffentliche Sauberkeit. Die großen Umsteigestationen der Untergrundbahnen Tokios - mehrstöckige unterirdische Städte, die oft täglich von Hunderttausenden Menschen frequentiert werden - sind peinlich in Ordnung gehalten, der dichte, oft stockende Straßenverkehr spielt sich ohne viel Gehupe und Geschimpfe ab, und ich habe auch nach mehrfachen Schlechtwettereinbrüchen kaum ein schmutziges Auto gesehen.

In den Supermärkten ist alles sauber und appetitlich verpackt, und in den Stoßzeiten sind oft Hilfskräfte am Werk, welche die erstandenen Waren bereits in eine Tragtasche verstaut haben, während man noch das Geld aus der Brieftasche klaubt.

Mehr noch als die manuelle Flinkheit beeindruckt aber die Intelligenz, mit der hier vieles bis ins kleinste, aber durchaus nicht nebensächliche Detail durchdacht ist. Oft ist man betroffen, daß diese guten Ideen nicht den Europäern gekommen sind.

Gewiß sind die Japaner Eklektiker, die einen großen Teil ihrer Kultur aus dem Ausland übernommen haben-aus China und indirekt aus Indien, später aus Europa und Amerika. Aber sie besitzen eine eigentümliche Genialität, das übernommene sogleich selbständig durchzudenken und in verblüffender Weise weiterzuentwickeln.

Das hat sich schon seinerzeit im russisch-japanischen Krieg von 1904/05 darin gezeigt, daß sie die technischen und taktischen Erfordernisse der modernen Kriegführung weit rascher erfaßt hatten als ihre Gegner. Den ausländischen Militärbeobachtern ist das meist gar nicht recht bewußt geworden, und so mußten die europäischen Armeen zu Beginn des Ersten Weltkrieges unter großen Blutopfern lernen, was sie von den Japanern nicht gelernt hatten.

Auch die heute so vieldiskutierten Autoexporte waren für jeden vorherzusehen, der seit den späten sechziger Jahren die außerordentliche technische Leistungsfähigkeit der Japaner auf dem Motorradsektor beobachtet hatte. Doch bei uns tröstete man sich damit, daß die japanischen Autos vorerst zwar preiswert und solid, aber technisch noch eher primitv waren und ihre Karosserien eine Kreuzung von Pagodenstil und Talmi-Amerika darstellten.

So schlief im Westen vielerorts das Management, die Gewerkschaften forderten immer höhere Löhne, die dann fröhlich auf die Preise draufgeschnalzt wurden, und die Verarbeitungsqualität ließ nach. Als dann aus dem Fernen Osten hochmoderne, präzis gefertigte Konstruktionen mit geschmackvollem Design günstig auf den Markt kamen, gab es entsetzte Kinderaugen.

Dabei ist Japan längst kein Billiglohnland mehr, und von einem Sozialdumping kann allenfalls in eingeschränktem Sinne gesprochen werden. Das Bruttoeinkommen pro Kopf ist bereits etwas höher als in Österreich, der Steuerdruck fühlbar geringer. An dauerhaften Gebrauchsgütern verfügen schon mehr als 95 Prozent der Haushalte über Kühlschrank, Waschmaschine, Farbfernseher und Staubsauger, fast 60 Prozent übereinen PKW und fast 40 Prozent über eine Klimaanlage.

Die großen Firmen bieten ihren Mitarbeitern ein beträchtliches Maß an sozialer Sicherheit, fordern allerdings auch hohe Arbeitsleistungen und strikte Arbeitsdisziplin. Den Menschen in den vielen Klein- und Kleinstbetrieben geht es freilich fühlbar schlechter.

Die Wurzeln des Japanischen Wunders“ scheinen vielmehr anderswo zu liegen. Da ist der noch intakte Zusammenhalt der Familien, deren Angelpunkt die Frau bildet, die dadurch in dieser patriarchalischen Gesellschaft eine weit stärkere Stellung innehat als dies nach außen scheint. Da ist ein Per- fektionismus und ein Leistungsethos, das wohl noch auf der alten, aus dem chinesischen Tao entwickelten Idee des „Do“ beruht, also des „Weges“ oder der „Aufgabe“, die dem Menschen gestellt ist und in deren möglichst vollkommener Erfüllung er auch die Erfüllung seines Lebens findet.

Dazu kommt ein leistungsorientiertes Auslesesystem, das schon an den Schulen beginnt. Die großen Firmen wählen ihre Mitarbeiter sorgfältig aus, und die Elite-Universitäten legen bereits bei der Aufnahme strenge Maßstäbe an. So werden etwa an der Medizinischen Fakultät der University of Tokyo nur etwa fünf Prozent der Bewerber aufgenommen.

Das führt gewiß zu Härten, hat sich aber im Grundsätzlichen bewährt. Längst sind die Japaner in den meisten wissenschaftlichen und technischen Sparten keine Kostgänger des Westens mehr. Vor allem jedoch sind Ehre, Selbstzucht und Pflichtbewußtsein keine Begriffe, über die jeder Schnösel seine Witze reißen darf. Gewiß bleibt die Frage offen, wie weit mit dem Wohlstand auch dessen demoralisierende Folgen auf Japan übergreifen, doch es ist diesem Volk immer wieder gelungen, bedenkliche Entwicklungen abzufangen und auf ein erträgliches Maß zu reduzieren - was vorläufig für die physische Umweltverschmutzung gilt.

Natürlich ist auf diese Weise den alten Industrieländern eirte sehr unbequeme Konkurrenz erwachsen. Aber wir sollten auch nicht vergessen, aus wie trüben Quellen mitunter die antijapanische Propaganda gespeist ist, die sich da und dort bemerkbar macht. Man weiß, welche Kräfte bestrebt sind, in der Freien Welt - zu der auch das heutige Japan als integrierendes Glied gehört - Zwietracht zu säen.

Man weiß auch, wem es ein Dorn im Auge ist, daß das Entwicklungsproblem im Fernen Osten (auch in Taiwan und Singapur) auf marktwirtschaftlicher Grundlage erfolgreich angepackt wurde, während die sozialistischen Experimente in der Dritten Welt eher dürftige Ergebnisse gezeitigt haben.

Wir brauchen die japanische Konkurrenz nicht zu fürchten, wenn wir uns auf unsere eigenen Traditionen der Disziplin und Pflichterfüllung besinnen und darangehen, wieder planmäßig Leistungseliten aufzubauen. Wir sollten vielmehr mit Respekt und Sympathie den Aufstieg eines Volkes betrachten, dem nicht die Schätze einer verschwenderischen Natur in den Schoß gefallen sind. Japan hat das, was es heute ist, widrigen Umständen durch Fleiß und Intelligenz, durch Zähigkeit und Zielbewußtsein abgerungen.

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