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Jeder sein eigener Arzt

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Tugend als Taugen. Wir wären gut beraten, in der Medizin nun auch jene Schutzfaktoren wieder stärker zu berücksichtigen, welche die Alten „vir-tutes“ nannten.

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Tugend als Taugen. Wir wären gut beraten, in der Medizin nun auch jene Schutzfaktoren wieder stärker zu berücksichtigen, welche die Alten „vir-tutes“ nannten.

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Der Historiker der Medizin, der die Entwicklung von immerhin drei Jahrtausenden im Blick hat — und nicht nur die Entwicklungen, sondern auch die Verkümmerungen —, muß feststellen, daß wir seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts schon in eine tiefe, dauerhafte Krise geraten sind. Damals, um das Jahr 1850, wurde die

Tradition von Jahrtausenden radikal abgebrochen, der Arzneimittelschatz zum alten Eisen geworfen, die Medizin als Gesundheitslehre als unwissenschaftlich ausgeschaltet, das „Philosophi-kum“ — um nur ein Stichwort zu nennen — ersetzt durch das „Physikum“:

Gleichzeitig begann aber auch damals schon eine neue Besinnung auf das Humane in den Wissenschaften, auf das, was man „Tiefenperson“ oder „Seele“ nannte, auf das Anthropologische, und damit wieder auch auf den Patienten als Mensch. Alle Natur, so glaubte man, sei wieder auf dem Wege zum Menschen.

Es war in den letzten Jahrzehnten vor allem die psychosomatisch orientierte Medizin, die uns darauf verwiesen hat, daß Gesundheit und Krankheit es mit Selbstverwirklichung oder Entfremdung zu tun haben, daß die berühmten Risikofaktoren als auffällig nahe an die alten Lasterkataloge gerückt erscheinen, so-daß wir gut beraten wären, nun auch jene positiven Schutzfaktoren wieder stärker zu berücksichtigen, welche die Alten „virtutes“ nannten: Tugend als Taugen.

Eine eher präventiv als ausschließlich kurativ eingestellte Medizin ist ja immer auf Vorausschau aus, erfordert „pro-viden-tia“ und damit jene „prudentia“, die nicht von ungefähr im Tugendkatalog an erster Stelle steht, wenn auch nicht zu denken ohne die anderen Kardinaltugenden, die „justitia“ (die jedem das Seine läßt), die „fortitudo“ (als Mut zum Eingreifen) und die „tempe-rantia“ (als Mitte und Maß im „temperamentum“). Vor-Sicht, Vor-Hut, Vor-Sorge begleiten den gesamten Indikations-Gang und gehören nicht von ungefähr zu den ältesten Vorkehrungen des ärztlichen Denkens und Handelns.

Es ist sicherlich nicht von ungefähr, daß gerade hier die offenen Fragenfelder auftauchen, die immer herausfordernder Erzieher wie Ärzte, Politiker und auch die Theologen zu faszinieren beginnen, zumal wir es bei den Grundbegriffen um die Gesundheit —' wie „salus, sanatio, integritas, restitutio“ - mit theologischen Kernbegriffen par excellence zu tun haben. Es ist weniger die Frage „gesund woher“ als die Frage „gesund wozu“, die uns bedrängen muß: Gesundsein hat immer auch zu tun mit Lebenssinn!

Vielleicht haben wir heute — am Ausgang eines dramatischen Jahrhunderts - erst wieder ein Organ gebildet für jenen erstaunlichen Ausspruch, den der junge Novalis (Friedrich von Hardenberg) am Ende des 18. Jahrhunderts seinem kommenden Jahrhundert entgegengerufen hat, ein Diktum, das lautet: „Wenn die Menschen einen Schritt vorwärts tun wollen zur Beherrschung der äußeren Natur durch die Kunst der Organisation und der Technik, dann müssen sie vorher drei

Schritte der ethischen Vertiefung nach innen getan haben.“

Er schließt diesen Spruch mit einem Memento: „Tun sie diese drei Schritte nach innen nicht vor dem ersten Schritt nach außen, so entsteht aus diesem sogenannten Fortschritt zuletzt nur namenloses Unglück.“

In einem der „Fragmente“ des Novalis steht: „Die Menschen werden künftig in medizinischer Hinsicht mehr zusammenhalten müssen. Sie werden sich ihrer leibhaftigen Situation bewußter werden und es endlich einmal lernen, dieses unerschöpfliche Brachland des eigenen Lebens zu beackern und zu kultivieren.“ Das Studium der Medizin wird Pflicht und Not.

Aus diesem programmatischen Ansatz hat Novalis eine grandiose

Kategorientafel mit einer ganzen Hierarchie von Gesundheiten entfaltet, die von der „rohen Gesundheit“ über die „konsonierte Gesundheit“ zu einer „gebildeten Gesundheit“ führt. Für einen solchen existentiellen Entwurf aber sei letztlich jeder sein eigener Arzt, jedermann der Architekt seines eigenen Leibes. Und noch einmal Novalis: „Der allgemeinen Forderung der Vernunft zufolge sollten auch alle Menschen Ärzte, Dichter und so fort sein.“ Wir sind die Bildner unseres Lebens, sind -wie es später bei Friedrich Nietzsche heißen sollte -: „die Dichter und Fortdichter des Lebens“.

Vom Patienten wird künftighin erwartet, daß er immer selbständiger wird, zumal er in zahlreichen Fällen - bei chronischen Krankheiten, bei seelischen Störungen, bei langfristigen Behinderungen und einer letzten Endes nur noch bedingten Gesundheit, bei endgültiger Invalidisierung und schließlich im Alter - immer mehr der Experte und damit sein eigener Spezialist wird werden müssen.

Es wird sich aufs Ganze gesehen gar nicht vermeiden lassen, daß die vier therapeutischen Großblöcke — Prävention, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation — in ein zunehmendes Spannungsverhältnis geraten, wobei nicht nur die technologischen Veränderungen, sondern auch die biomedizinischen Kosten und damit der Druck der Gesellschaft weitreichende Verschiebungen der Mittel mit sich bringen werden.

Um den Gedankengang zusammenzufassen: Nicht „Arzt-Ethik kontra Medizin-Technik“ sollte die Parole lauten, sondern medizinische Technik und ärztliche

Ethik. Was hier entscheidet, ist einzig und allein die Persönlichkeit, die zu bilden wir freilich längst aus unserem akademischen Stundenplan gestrichen haben. Was uns vor Augen steht und eigentlich gemeint war, ist ein Plädoyer für ein neues integrati-ves System der Medizin, jenes System einer, die Krankenversorgung wie Gesundheitsbildung umfassenden Heilkunde, ein System das ich persönlich für die Medizin der Zukunft halte.

Hierzu aber müßte die eindimensionale, rein ökonomisch orientierte Heiltechnik erweitert werden auf die vier Felder einer wirklichen Lebenswelt, nämlich 1) das humanbiologische Feld, weitgehend determiniert durch unsere Veranlagung und das soziale Fluidum; 2) die Umwelt-Faktoren, wie sie uns als physikalische, als technische und soziale Umwelt nun einmal gegeben sind; 3) die Arbeitswelt, mit all ihren Faktoren, die den Lebensstil des modernen Menschen so entscheidend prägen und 4) die Erlebniswelt jedes einzelnen von uns, mit allen Selbsterfahrungen um „gesund“ und „krank“, aller Selbstbesinnung und Selbstverantwortung auch.

Wenn wir aber alle verantwortlich eingebaut sind in das System sozialer Sicherungen, dann haben wir bereits damit auch eine politische Aufgabe übernommen. In' der Medizin der Zukunft wird jeder von uns ein Gesundheitspolitiker sein, ob er das weiß oder nicht, ob ihm dies lieb sein mag oder auch nicht! Im bewußten Durchleben seiner Konflikte wird der Mensch einfach auf seinen Ort im Ganzen der Welt wieder achten müssen. Zur Rehabilitation der gestörten Gleichgewichte gehört immer wieder auch die Resozialisierung: ein umfassender Entwurf für eine menschengerechte Welt.

Damit sind wir angekommen bei einem knappen, schlüssigen und - wie ich meine — eindeutigen Ergebnis. Es wird eine philosophisch zu begründende medizinische Anthropologie und - in praxi - eine ärztliche Ethik sein, deren Kriterien ich einmal wie folgt formulieren möchte:

1. Wir Ärzte haben es zu tun mit einem Lebendigen, das um eine Unendlichkeit höher, komplexer, wertvoller ist als alles, was wir herstellen, machen oder reparieren.

2. Wir selber sind ja auch nicht gemacht oder machbar, sondern organisch gewachsen und historisch geworden, weder Ergebnis der Evolution oder Produkt eines Zufalls.

3. Wir sind weder autonom noch autark. Wir sind mit anderen und für andere da, geschaffen und berufen zu einem Wirken an und mit einer Welt des Lebendigen. .

Schon Maimonides, ein jüdischer Leibarzt im arabischen Mittelalter, wußte: Die Medizin weist uns nur hin auf das Nützliche und warnt vor dem Schädlichen, aber sie belohnt nicht für jenes und straft nicht für dieses. Der Arzt ist kein Schulmeister und kein Seelsorger, kein Polizeimann und auch kein Gesundheitspolitiker. Er ist der Zeuge des Lebens, ist der, der die Not wendet; er ist ein „Freund des Lebens“.

Der Autor ist Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin an der Universität Heidelberg. Aus einem Vortrag für den Club „pro wien“ Ende Februar 1986 in Wien.

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