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Jedesmal ein Wendepunkt

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Zweimal hat der PEN-Club bisher in Wien getagt, 1929 und 1955. Jedesmal an einem Wendepunkt. Das erste Mal war es ein für die ganze Welt unerfreulicher, das zweite Mal ein zumindest für das Gastland großer Augenblick. 1955 war der PEN-Kon-greß die erste internationale Tagung im souveränen Österreich, und es wurde vom offiziellen Österreich als ein Symbol und als ein Zukunftsversprechen gewürdigt, daß die ersten Gäste des nun völlig freien Landes die Vertreter des Geistes waren. Die Tagung des Jahres 1929 hingegen fiel mit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise zusammen, das Jahr 1929 halbiert nicht nur die Zwischenkriegszeit, es bildet eine tiefe Zäsur. Es beendet die vielzitierten „Goldenen zwanziger Jahre“ und leitet den Abstieg zum Zweiten Weltkrieg ein.

Der PEN-Kongreß des Jahres 1955 begann genau einen Monat nach der Unterzeichnung des Staatsvertrages. Wie 1929 tagt der PEN-Club auch 1955 in einem Österreich, das im Begriff ist, sich von den Wunden eines zehn Jahre zurückliegenden Krieges zu erholen. 1928 hat Felix Saiten die PEN-Entscheidung, 1929 in Wien zu tagen, mit dem Argument herbeigeführt, die Delegierten müßten „in wirklicher Erfüllung des PEN-Klub-Gedankens zu den Mißhandelten, zu den Entmachteten gehen“. Die Entmachteten und Mißhandelten von 1929 verstehen sich 1955 noch als Gefallene und Gedemütigte. Alle drei Präsidenten des Wiener PEN-Zen-trums der Vorkriegszeit (Raoul Auernheimer, Felix Saiten und Franz Werfel) wurden aus Österreich vertrieben und starben im Exil.

„Theater als Ausdruck unserer Zeit“ heißt das Motto des PEN-Kon-gresses 1955. Die feierliche Eröffnung findet im Theater in der Josefstadt statt, Unterrichtsminister Drimmel und Bürgermeister Jonas begrüßen die Teilnehmer, Bundeskanzler Raab lädt sie nach Schönbrunn. Ein Podiumsgespräch über das Kongreßthema findet in der Hofburg statt. Franz Theodor Csokor, der Präsident des Wiener PEN-Zentrums, hält das einleitende Referat. Unter den Teilnehmern sind Erich Kästner und Gustaf Gründgens, sind Ferdinand Bruckner und Ernst Lothar. Aber auch der amerikanische Dramatiker Elmer Rice ist nach Wien gekommen, dessen .„Rechenmaschine“ der spätere Oberspielleiter des österreichischen Fernsehens der ersten Stunde, Neuberg, ein paar Jahre zuvor im Studio der Hochschulen in der Kolingasse inszeniert hat. 1955: Die Nachkriegsdramatik, die (in jeder Beziehung!) dramatische Bewältigung des Scherbenhaufens neigt sich dem Ende zu, wird vom Theater der höheren Existenzprobleme verdrängt. Sysiphos löst Abel ab.

Das Thema, über das während des PEN-Kongresses 1955 aber im Hintergrund am meisten gesprochen wurde und das der Präsident des internationalen PEN Charles Morgan in seiner Rede mit besonderem Nachdruck behandelte, wird, den PEN-Kongreß des Jahres 1975 in Wien noch immer beschäftigen. Es ist die Gründung eines PEN-Zentrums in der Sowjetunion, die sich damals gerade anbahnte. Dem PEN, erklärte er, stünden wichtige Entscheidungen bevor, denn in jüngster Zeit sei der Versuch zur Schaffung eines sowjetrussischen Zentrums unternommen worden, und ' der PEN müsse nun entscheiden, ob ein neues PEN-Zen-trum in einem totalitären Staat frei sein könne, es gebe Grenzen der Toleranz ... Heute sieht man diese Frage pragmatischer, realistischer, wohl auch logischer, wenn man nicht von der Schaffung, sondern vom Bestehen von PEN-Zentren ausgeht und sich sagt, daß es unlogisch wäre, die Schaffung eines PEN-Zentrums in der Sowjetunion zu verhindern, wenn in anderen Ostblockländern PEN-Zentren längst existieren.

Das Jahr 1955 war noch ein Jahr des kalten Krieges. Das wird deutlich, wenn man sich heute wieder in die Debatten von damals einliest. Noch war das Wort „Tauwetter“ nur im Wetterbericht bekannt. Noch war das kein politischer Terminus. Noch war der Zweite Weltkrieg jüngste und der Höhepunkt des Ost-West-Konfliktes allerjüngste Vergangenheit.

Juni 1955: Adenauer befreundet sich zögernd mit dem Gedanken, nach Moskau zu reisen. In Vietnam hat die königliche Familie, angeblich ganz von allein, Bao Dai abgesetzt und den Ministerpräsidenten Diem als Staatsoberhaupt installiert. Österreich hat als jüngstes UNO-Mitglied Waldheim zu seinem Vertreter am

East River bestimmt. Wien feiert die Abschaffung der alliierten Identitätsausweise, hat mit der Fertigstellung des Ringturmes die Zerstörung seiner Silhouette tatkräftig in Angriff genommen und erwartet den Besuch von Pandit Nehru.

Und Wien findet endlich Gelegenheit, dem österreichischen Dramatiker Ferdinand Bruckner den „Ehrenring der Stadt Wien“ zu überreichen. Da er im Ausland lebt, hat man leider keine Gelegenheit gesehen, ihm die Auszeichnung, die man ihm vier Jahre (!) früher verliehen hat, auch zu geben.

26 Jahre früher: Der PEN-Club, geboren aus dem Gedanken der Völkerversöhnung nach dem Schock eines Weltunterganges, tagt in Wien. Die Welt bereitet sich auf einen neuen Untergang vor. Nachrichten von wirtschaftlichen Krisenerscheinungen in allen Ländern füllen die Spalten der Zeitungen. Reichsaußenminister Stresemann hält im Reichstag eine seiner großen, polemischen Reden gegen die Nationalen und gegen Hugenberg, eine Rede, die ganz Deutschland angeht, aber der Ältestenrat des Reichstages verhindert die Rundfunkübertragung. Deutschnationale Zwischenrufe wie „Stresemann hinaus!“ begleiten die Rede.

In England hat gerade Ramsay MacDonald sein Amt als Premier angetreten — auf der Titelseite der „Neuen Freien Presse“ begrüßt ihn R. R. Coudenhove-Kalergi als „einen der ehrlichsten und mutigsten Freunde des europäischen Friedens“. Noch sind Hoffnungen gerechtfertigt. Der Fatalismus kommt später.

Auch den in Wien tagenden PEN-Mitgliedern liegt Fatalismus fern. Wären sie Fatalisten, wäre der PEN-Club niemals gegründet worden. Schalom Asch, seit zwanzig Jahren erstmals wieder in Wien, erklärt in einem Gespräch mit der „Neuen Freien Presse“ über den PEN-Club:

„Würde er sich bloß darauf beschränken wollen, Entscheidungen in Fragen herbeizuführen, wie etwa, ob die Werke eines Autors dreißig oder ob sie fünfzig Jahre lang nach seinem Tode geschützt sein sollen, dann wäre er kaum etwas, wofür ich mich sonderlich begeistern könnte. Ich sehe in ihm vielmehr, wenn auch noch nicht der Wirklichkeit, aber doch der Möglichkeit nach, eine Art Völkerbund des Geistes. Einen Bund, der die Gleichberechtigung der Kulturen, der .großen' wie der .kleinen', die sich in der Idee ja von selbst versteht, zur lebendigen Wirklichkeit machen soll. Er muß der Menschheit die Wahrheit bewußt machen, daß es .große' und .kleine' nationale Kulturen gar nicht gibt, nur numerisch kleine und numerisch große Völker. Die Juden waren ein winziges Volk, aber sie haben die Bibel geschaffen und die Norweger sind ein noch kleineres Volk, aber sie haben zwanzig Jahre lang die Weltliteratur beherrscht. Man muß endlich begreifen, daß, wer eine Kultur unterdrückt, nicht bloß den Trägern dieser Kultur einen Tort antut, daß er vielmehr der ganzen Menschheit ein Stück ihres geistigen Gesamtorganismus amputiert.“

Schalom Asch postuliert das Recht der jüdischen Literatur auf Existenz. Er fordert ihre Gleichberechtigung mit anderen Literaturen. Das hieß damals alles andere, als offene Türen einzurennen. Drei Tage vor Beginn des Wiener PEN-Kongresses meldet die „Neue Freie Presse“, daß die „Union der österreichischen Juden“ eine Eingabe an das Bundeskanzleramt gerichtet hat, in der auf Gemeinderatsbeschlüsse in österreichischen Fremdenverkehrsorten hingewiesen wird, denen zufolge Juden als Sommergäste nicht akzeptiert werden. Es werden einige Gemeinden genannt, darunter Mank, Mattsee, Tamsweg und Eferding.

Und wenige Wochen vorher haben deutschnationale Studenten auf der Rampe der Wiener Universität jüdische Studenten verprügelt. Das war damals die Realität.

Der Wiener PEN-Kongreß steht noch im Zeichen dessen, der den internationalen PEN-Club gegründet hat: John Galsworthy. In einer Zeit, „da der Begriff der Internationalität so sehr auf den Hund gekommen war, daß nur eben noch die Schlafwagengesellschaft, und diese unter Ausschluß Mitteleuropas, ihn nützbringend verwaltete“, schrieb Hans Müller damals, gab „der lauterste, den das gegenwärtige Schrifttum besitzt, John Galsworthy“, die Anregung zur Gründung dieser humanistischen Internationale der Dichter, Essayisten, Publizisten und Romanciers, und: „Ein solcher Durst nach seelischer Abrüstung kam seinem Gedanken entgegen oder zuvor, eine so leidenschaftliche Reue über den vorangegangenen, internationalen Bankerott des Geistes, daß, was zuerst halb utopisch schien, sehr rasch in die Tat umgesetzt war: in allen Kulturländern der Erde bildeten sich Sektionen des PEN-Klubs...“

Das Wort Reue war damals noch möglich. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde nur noch und nicht einmal bewältigt. Der PEN-Club aber ist geblieben, was er war: Keine Interessengemeinschaft, sondern ein Zusammenschluß geistig Schaffender mit uneigennützigen Zielen.

Er kann die Welt noch immer nicht ändern und die Welt hat ihn noch immer nötig.

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